Lola ist Anfang zwanzig, trägt ein selbstgeknüpftes Fußband um den Knöchel und hat wache Augen. Während sie erzählt, lässt sie sich Zeit, sie antwortet erst, wenn sie genau weiß, was sie sagen möchte.
Lola heißt eigentlich anders. Sie hat sich dazu entschieden, auf dem Blog über ihre posttraumatische Belastungsstörung, Therapie und Erinnerungen zu sprechen. Um sich zu schützen, hat sie sich entschieden, dabei anonym zu bleiben. Vor dem Gesprächsbeginn setzt sie sich gerade hin und zieht eine Decke über ihre Füße.
Über das Trauma sprechen
Semikolon: Warum hast du dich entschieden, auf dem Blog von dir zu erzählen?
Lola: Weil ich Menschen mit meiner Geschichte helfen möchte und ich irgendetwas tun möchte, um mich handlungsfähig zu fühlen. Ich kann viele Dinge mit mir selbst tun, um mich so zu erleben, aber noch nicht so viele im Außen. Das möchte ich ändern.
Semikolon: Heute soll es um die Themen Trauma und posttraumatische Belastungsstörung gehen.
Lola: Ja. Ich glaube, dass auch ohne viele Informationen leider viele meine Geschichte verstehen können. Ich bin heute zweiundzwanzig Jahre alt. Mit vierzehn bin ich mehrere Male vergewaltigt und missbraucht worden, von einem deutlich älteren Mann. Er hat nicht zu meiner Familie gehört, ist aber immer wieder im familiären Kontext aufgetaucht und war oft in unserem Haus.
Eine posttraumatische Belastungsstörung entsteht als verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis. Symptome sind u.a. das wiederholte Erleben des Traumas in Flashbacks, die vor dem Hintergrund des Gefühls von emotionaler Betäubung und Übererregung auftreten. Häufig begleiten auch Angststörungen und Depression eine posttraumatische Belastungsstörung.
Semikolon: Wie sah dein Weg aus, bis du so über dein Trauma sprechen konntest?
Lola: Ich wusste lange gar nichts mehr von meinem Trauma. Ich hatte Depressionen und Ängste, konnte da aber keinen genauen Punkt rausfiltern. Ich war wegen anderer Themen schon mehrmals in einer psychosomatischen Klinik und habe nach meinem zweiten Aufenthalt gemerkt: Okay, da stimmt wirklich irgendwas nicht. Ich konnte es lange nicht einordnen, irgendwann aber den Bereich identifizieren. Es war schwierig für mich, Sexszenen in Filmen anzusehen, oder wenn mich Menschen aus Spaß erschreckt haben. Besonders aber der erste nähere oder sexuelle Kontakt mit Jungen ging nicht für mich. Ich habe gemerkt, dass ich das nicht wollte – obwohl ich es eigentlich doch wollte. Irgendwann habe ich auch häufig davon geträumt, konnte es aber nicht wirklich zuordnen.
Semikolon: Was hast du dann gemacht?
Lola: Mir ging es zu der Zeit immer schlechter. Deswegen bin ich in eine Klinik gegangen. Mein Therapeut hat zu mir gesagt, dass es eine Möglichkeit gibt, da zu forschen und das, was da ist, hochzuholen. Erst mal haben wir viel Stabilisierung und Ressourcenarbeit gemacht und meine Medikamente neu eingestellt. Als ich mich dann bereit gefühlt habe, haben wir angefangen, EMDR zu machen. Das ist eine Technik in der Traumatherapie, mit der man Dinge herausfinden kann, an die man sich nicht mehr erinnert, weil sie zu traumatisierend waren.
Und genau das habe ich dann gemacht und so sind die Dinge wieder aufgekommen.
“Eye Movement Desensitization and Reprocessing”-ist eine psychotherapeutische Methode, die häufig in der Traumatherapie eingesetzt wird. Während der Therapie konzentriert sich der:die Betroffene auf das traumatische Ereignis. Gleichzeitig bewegt er:sie unter Anleitung die Augen schnell hin und her. Dieses Verfahren wirkt auf die neuronalen Bahnen im Gehirn. EMDR ermöglicht es, traumatische Erfahrungen, die oft in unvollständigen Erinnerungsnetzwerken abgespeichert sind, neu einzuordnen und zu verarbeiten.
Traumatherapie und EMDR
Semikolon: Wie war es für dich, EMDR zu machen und zu wissen, dass du dich vielleicht an schlimme Dinge erinnern wirst?
Lola: Tatsächlich hat es bei mir direkt in der ersten Sitzung geklappt, dabei ist das relativ selten so. Ich glaube, das lag daran, dass ich mich in einem so sicheren Kontext befunden habe und das Thema auch schon so präsent war, weil ich es durch die vielen Trigger bemerkt habe. Es wollte irgendwie raus und brauchte Raum. Natürlich war das total heftig. An den eigentlichen Moment kann ich mich auch nicht wirklich erinnern, weil ich erst mal total zu gemacht habe. Ich habe wenig gefühlt in den Tagen darauf, weil das zu viel auf einmal war.
In der Therapie habe ich dann aber noch sehr viel mehr EMDR gemacht. Wenn ein Trauma nicht verarbeitet ist, dann fühlt es sich immer wieder so an, als hätte es nicht geendet. Besonders, wenn man sich nicht daran erinnern kann. Deshalb geht es immer wieder darum, das Hirn durch EMDR zu stimulieren und einen Anfangs- und Endpunkt zu fixieren, damit man das, was geschehen ist, als Zeit in seinem Leben einordnen kann und es sich nicht immer wieder wie die Gegenwart anfühlt.
Lola: Es war am Anfang sehr schwer für mich, darüber zu reden. Ich musste dabei immer lachen. Das ist schon immer eine Bewältigungsstrategie von mir gewesen, dass ich lache oder grinse, wenn es schwierig für mich ist. Das hat ein bisschen die Ernsthaftigkeit rausgenommen. Am Anfang habe ich mir aber selbst nicht wirklich geglaubt, weil die Erinnerungen nur durch die Therapiemethode rausgekommen sind. Ich dachte, ich denke mir das aus. Erst als ich wirklich viele Bilder zusammen hatte und ich mich nicht nur an Bruchstücke, sondern wirklich an ganze Abende erinnern konnte, konnte ich dann auch immer mehr glauben, dass das wirklich passiert ist. Und dann wurde es auch leichter, darüber zu sprechen.
Semikolon: Wie nimmst du jetzt, nachdem du dich wieder erinnerst, die Zeit wahr, in der dein Trauma geschehen ist?
Lola: Ich erinnere mich noch immer an wenig. Ich habe mittlerweile klare Bilder und auch kurze Videosequenzen, in denen ich weiß, was passiert ist. Aber ich kann mich wenig an die Zeit darum herum erinnern und denke, dass sich das auch nicht mehr ändern wird.
Ich habe die letzten Tage mit zwei Freundinnen verbracht, die oft aus ihrer Jugend oder Kindheit erzählen. In solchen Situationen merke ich besonders, dass ich ganz wenig Erinnerungen daran habe. Ich weiß nicht mehr viel, was in der Zeit sonst passiert ist. Aber das ist irgendwie auszuhalten.
Umgang mit Triggern
Semikolon: Wie fühlt es sich für dich an, wenn du getriggert bist?
Lola: Erst mal ist ein Trigger ein Reiz, der auf dich zukommt und aus dem dann etwas entsteht. Im besten Fall kann man irgendwann gut damit umgehen. Am Anfang löst es aber meistens Flashbacks, Dissoziation oder Panikattacken aus.
Bei mir war zum Beispiel das Geräusch vom Rollladen ein Trigger und hat Flashbacks ausgelöst. Das heißt, ich wurde in die Zeit zurückversetzt, in der das Trauma passiert ist. Manchmal hatte ich klare Bilder, manchmal aber auch nur Gefühle. Bei sehr starken Flashbacks fühlt es sich so an, als würde man die Situation noch mal durchleben. Oft kamen bei mir Flashback, Dissoziation und Panikattacke alle hintereinander. Zuerst kam das Flashback, was schwer auszuhalten ist. Deswegen kam dann die Dissoziation und wenn ich dann wieder bewusst da war, eine Panikattacke. Am Anfang war das gar nicht so leicht, weil man von vielen Triggern gar nichts weiß. Viele musste ich leider auf schmerzhafte Weise rausfinden. Das konnte dann schon sein, sich aufs Bett zu setzen oder ein zu lautes Atmen.
Bei einer Dissoziation verliert die betroffene Person den Zugang zur Welt um sie herum. Sie fühlt sich weggetreten, wie in Watte gepackt oder losgelöst von sich selbst. Was um die Person herum geschieht, nimmt sie nur noch kaum oder gar nicht mehr wahr.
Semikolon: Wie hat sich dein Umgang mit Triggern über die Zeit verändert?
Lola: Viele Dinge, die vor drei Jahren Trigger waren, sind mittlerweile keine mehr. Manche Trigger kann man auch vermeiden, zumindest eine Zeit lang, bis man in der Verarbeitung schon weiter ist. Aber es gibt auch Trigger, die einfach passieren. Wenn man Sport macht, kommt es eben vor, das jemand neben dir laut atmet.
Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass ich sehr getriggert bin, bestimmt einmal im Monat. Dann ist es gut, wenn ich nicht alleine bin, sondern jemand da ist, der mir vertraut ist und vor dem ich in diesem Moment keine Angst habe. Dann ist es gut für mich, leicht berührt zu werden, zum Beispiel an den Füßen, um mich ins Jetzt zu holen und das mit mir auszuhalten. Auch mit Skills zu arbeiten, hilft mir. Zum Beispiel mit Ammoniak, Barfußlaufen oder der 5-4-3-2-1-Übung. Das hört sich banal an, ist für solche Situationen aber total wichtig.
Die Übung, von der Lola spricht, kommt aus der Verhaltenstherapie (DBT). Jede Zahl wird z.B. einem Sinnesorgan zugeordnet. In einer Stresssituation benennt Lola fünf Dinge, die sie sieht, vier Dinge, die sie hört, drei Dinge, die sie fühlt, zwei Dinge, die sie riecht und eine Sache, die sie schmeckt. Ihr hilft das, um wieder in den Moment zu kommen.
Wenn du mehr über kognitive Verhaltenstherapie wissen möchtest, klicke hier.
Einfluss der PTBS auf den Alltag
Semikolon: Welchen Einfluss hat dein Trauma auf deinen Alltag heute?
Lola: Mein Umgang damit hat sich über die Jahre sehr verändert. Ich glaube, ein Stück weit wird es mich aber immer einschränken, weil ich vor vielen Dingen immer mehr Angst haben werde als andere. Ich werde abends im Dunkeln immer lieber rausgehen, wenn jemand einen Standort von mir hat. Und vermutlich wird es immer etwas mit mir machen, wenn jemand zu laut atmet. Ich glaube, mir hilft am meisten, mir immer wieder bewusst zu machen: Es war, aber es ist nicht mehr. Es ist passiert und es ist schlimm, dass es passiert ist. Ich werde das immer irgendwie mit mir tragen. Ich bin aber sehr froh, dass es immer weniger präsent ist, weil das dem Menschen, der das gemacht hat, weniger Macht über mich gibt. Ich hatte lange das Gefühl, dass er dadurch, dass es mir oft schlecht ging, total viel Kontrolle über mich hatte.
Semikolon: Wie fühlst du dich, wenn du daran denkst, was passiert ist?
Lola: Am Anfang hatte ich viel Ekel. Gegen mich selbst und die Person. Mittlerweile ist es vor allem Ekel und Wut gegen ihn und die Situation, die das damals möglich gemacht hat.
Aber auch Scham ist ein Thema. Ich mache mich sehr verletzlich, wenn ich darüber rede. Und irgendwo suche ich auch nach meiner Schuld daran.
Früher hatte ich oft der Wunsch, verstehen zu können, warum jemand so was Schlimmes tut. Momentan ist aber auch immer öfter Wut auf das System da, weil man so wenig tun kann. Man braucht eben Beweise. Ich kann nicht einfach zur Polizei gehen und sagen: Ich wurde vor acht Jahren vergewaltigt. Die antworten dann nicht: Okay, wir sperren ihn ein. Das passiert nicht.
Semikolon: Wie wünschst du dir, dass dein Umgang mit dem Thema Trauma in Zukunft aussieht?
Lola: Mein Wunsch ist es, irgendwann eine Selbsthilfegruppe für Betroffene zu machen. Dafür brauche ich aber noch mehr Stabilität, um mich gut abgrenzen zu können. Außerdem wünsche ich mir, offen darüber sprechen zu können. Nicht über die Details, aber über das Thema, um Menschen zu zeigen, dass sie damit nicht alleine sind. Und dass es leider viel zu oft passiert. Ich würde gerne die Scham davor nehmen, damit andere vielleicht früher darüber sprechen können als ich und in einem Rechtsstreit mehr erreichen können. Gleichzeitig will ich auch sagen, dass es auch okay ist, wenn man erst nach 30 Jahren darüber spricht. Und es ist auch okay, wenn man gar nicht darüber spricht. Aber es ist gut, darüber zu sprechen. Das ist die beste Therapie. Es gibt gute Anlaufstellen, an die man sich wenden kann.
Die Dunkelziffer ist aber gerade bei Fällen der sexualisierten Gewalt hoch. Kriminologische Studien zeigen, dass nicht einmal jede 15. Tat zur Anzeige gebracht wird. Die Hilfsorganisation „Weisser Ring“ geht daher davon aus, dass es in Deutschland im Jahr zu einer Millionen Straftaten der sexuellen Gewalt kommt. Schon vor dem achtzehnten Lebensjahr erfährt Schätzungen zufolge jedes fünfte Mädchen und jeder neunte Junge sexualisierte Gewalt.
Semikolon - Nachgefragt
Semikolon: Sollten wir mehr über psychische Erkrankungen sprechen?
Lola: Definitiv! Ich bewege mich immer mehr in Kreisen, in denen offen darüber gesprochen wird und kann mir fast gar nicht mehr vorstellen, dass es Menschen gibt, die das noch tabuisieren. Es hilft oft, mit anderen Betroffenen zu sprechen. Dabei ist es gar nicht so wichtig, ob sie ein Trauma haben oder Depressionen oder Ängste oder irgendwas anderes, sondern einfach, dass da jemand ist, der auch mit etwas zu kämpfen hat. Das hilft jedem.
Semikolon: Was kann jede:r zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen beitragen?
Lola: Verständnis zeigen. Und keine Sachen sagen wie: Geh doch mal spazieren. Oder trink doch mal Wasser mit Zitrone. Die Dinge ernst zu nehmen, von sich zu erzählen und zu sich selbst ehrlich zu sein. Wenn jeder zu sich selbst ehrlich ist, dann gibt es keine Stigmatisierung mehr.
Wenn du selbst von sexualisierter Gewalt betroffen bist, oder dir Sorgen um jemanden machst, gibt es Hilfsangebote, an die du dich kostenfrei und anonym wenden kannst:
Hilfe-Telefon sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530 oder per E-Mail an [email protected] (Erreichbar montags, mittwochs und freitags von 09:00-20:00, sowie dienstags und donnerstags von 15:00-20:00 Uhr).
Hilfstelefon berta: 0800 30 50 75 0 (Dienstags von 16 bis 19 Uhr, sowie mittwochs und freitags von 9:00 bis 12:00 Uhr)
Telefonseelsorge: 0800 1110111 (Rund um die Uhr erreichbar)