Bonnie Leben Zeichnung Dissoziative Identitätsstörung

Dissoziative Identitätsstörung 

Die Bonnies: Nie allein

Isa, Ami, Tessa, Sophie, Anja und Vincent. Sie sind nur ein Bruchteil der Personen, die sich einen Körper teilen und gemeinsam “Bonnie Leben” heißen. Die Bonnies sind viele - sie haben eine dissoziative Identitätsstörung, kurz “DIS”, die früher als multiple Persönlichkeitsstörung bekannt war.

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Viele sein

Ami erzählt, dass sie bei einem Klinikaufenthalt wütend in das Zimmer ihres Therapeuten gestürmt ist, weil sie sich selbst entlassen wollte. Sie hat sich beschwert: sie war schon einige Wochen stationär in der Klinik, hatte aber kein einziges Einzelgespräch.

Oder zumindest: kein Einzelgespräch, an das sie sich erinnern konnte.

Denn der Therapeut widersprach ihr. Sechs Wochen lang hätten sie sich jeden zweiten Tag gesehen.

Nur: Ami war nicht dabei. Denn sie ist nicht alleine in ihrem Körper. Sie ist eine von vielen, eine von den Bonnies. Sie haben eine disoziative Persönlichkeitsstörung, bei der sich verschiedene Personen einen Körper teilen. Für Ami stimmte es, dass sie noch kein Einzelgespräch hatte. Statt ihr, waren andere Personen zu den Therapien gegangen. Ami war nicht dabei – und konnte sich nicht daran erinnern.

Was ist eine Dis?

Mehrere Personen in einem Körper. Das ist die Realität der Bonnies, die eine Dis haben. Eigenschaften und Persönlichkeitsanteile, die bei den meisten Menschen im Älterwerden zusammenwachsen und den Charakter einer Person bilden, bleiben bei Menschen mit Dis voneinander getrennt. Es entwickelt sich in einem Körper nicht nur eine Person, die darin lebt, sondern mehrere. Die Bonnies benutzen zur Veranschaulichung das Bild von Farbklecksen. Stellt man sich die Persönlichkeit eines Menschen als viele Farbkleckse auf einer Palette vor, so werden sie im Laufe des Lebens miteinander vermischt. Alle Farben gemeinsam machen die Person aus, man spricht von einer integrierten Persönlichkeit. Die Bonnies, die 2000 geboren wurden, gibt es nur als Bonnies. Die Annahme, dass es eine Ursprungs-Person gibt, von der Persönlichkeiten abgespalten wurden, beschreiben die Bonnies als falsch. Von Beginn an konnte die Persönlichkeit nicht zusammenwachsen; von Beginn an gab es Viele im Körper der Bonnies.

Bei Menschen mit Dis erreichen sich die einzelnen Farben nicht. Sie bleiben nebeneinander bestehen und ergeben jeweils einzelne Personen. Das bedeutet nicht, dass sich diese Personen nicht weiterentwickeln würden. Sie tun es wie jeder andere Mensch auch, haben Vorlieben, Interessen, Gedanken, Gefühle, ein komplexes Innenleben. Die verschiedenen Personen, die sich wie die Bonnies einen Körper teilen, werden oft “System” genannt.

Die Ursache für eine Dis sind in der Regel starke traumatische Ereignisse, die wiederholt im frühen Kindesalter auftreten. Die Dis wird daher als Traumafolgestörung angesehen. Es gibt Fälle von Dis, bei denen die Spaltung von Täter-Netzwerken gezielt hervorgerufen wird, etwa durch das Ansprechen mit verschiedenen Namen und einer klaren Zuteilung von Aufgaben.

Ob gezielt hervorgerufen oder aus sich heraus entstanden, hat eine Dis jeweils das Ziel, nicht erkannt zu werden. Menschen mit Dis haben es perfektioniert, sich im Alltag anzupassen, schreiben die Bonnies in ihrem Buch. Eine Dis zu erkennen und zu akzeptieren, heißt meistens auch, ein Trauma anzuerkennen. Bei den Bonnies gab es deswegen Personen, die das Erkennen der Dis verhindern wollten, etwa indem sie Arztbriefe verschwinden ließen, oder Personen in den Alltag schickten, die die Dis weder sehen konnten, noch wollten.

Wer sind die Bonnies?

Die Bonnies wissen nicht, wie viele sie sind, erzählen sie in einem Instagram-Video, in dem verschiedene Personen Fragen beantworten, die ihnen gestellt werden. Noch immer lernen die Bonnies neue Persönlichkeiten kennen. Einige zeigen sich kaum, andere verschwinden oder verschmelzen miteinander. Die Bonnies beschreiben, man könne sich ihr Innensystem nicht wie eine Schulklasse vorstellen – sondern eher wie eine gesamte Schule, mit an die Tausend Personen.

Die Bonnies sind so unterschiedlich wie auch die Lehrer, Hausmeister und Schülerinnen einer Schule. Sie unterscheiden sich in ihrem Alter und Geschlecht, ihren Fähigkeiten und Vorlieben. Einige von Ihnen altern, so wie auch Personen ohne Dis. Aber da ist auch Tessa, die Zehnjährige, die über sich sagt, dass sie schon sehr lange zehn ist. Der erwachsene Frauenkörper, in dem sie lebt, fühlt sich für sie komisch an. Blöd sei es, wegen des Körpers, kaum Freundinnen in ihrem Alter zu haben, erzählt sie in einem Instagram-Video. Einige Personen können nicht laufen, einige, aber nicht alle, können Auto fahren. Auch sprechen können nicht alle. Sie haben unterschiedliche Sehstärken, nicht alle nehmen Schmerz gleich wahr, nicht alle wissen gleich viel über ihr Trauma, oder Themen, in die sie sich hineingearbeitet haben.

Vereint sind die Bonnies aber nicht nur durch den Körper, den sie sich teilen, sondern auch darin, dass sie jeweils Aufgaben innehaben, die sie erfüllen sollen. Aufgabe, die von Täter-Netzwerken initiiert worden sind, um die Gewaltstrukturen aufrechtzuerhalten und nichts zu verraten – etwa, den Körper zu verletzen, oder Suizid zu begehen. Aber auch Aufgaben, die das Überleben einer Person mit Dis sichern. Bei den Bonnies ist das zum Beispiel 46, die eine Zahl als Namen trägt. Ihre Aufgabe war es lange, das Innensystem zu organisieren. Oder Ami, die nichts von ihrem Trauma weiß und gut gelaunt und voller Energie durch den Alltag geht, hat es perfektioniert, die Fassade aufrecht zu erhalten. Vor anderen Menschen, aber auch vor sich selbst.

Das Innen und das Außen

So wie es eine Außenwelt gibt, beschreiben die Bonnies eine zweite Welt, in der sie leben. Das Innen. Dort sind Personen, die nie in die Außenwelt gehen. Ihre Aufgaben bestehen darin, Personen schlafen zu schicken oder Türen der Innenwelt auf- und zuzuschließen, sich um andere Innenpersonen zu kümmern oder sie voneinander zu trennen.

Die Bonnies beschreiben den Zustand des Co-Bewusstseins mit dem Bild eines Autos. Am Steuer sitzt die Person, die gerade “vorne” ist – also in der Außenwelt agiert. Manchmal sitzt eine weitere Person auf dem Beifahrersitz. Sie kann durch die Windschutzscheibe beobachten, was im Außen geschieht und hat manchmal auch die Fähigkeit, ins Lenkrad zu greifen, oder einzelne Sätze in Gespräche einzuwerfen. Auch auf den Rücksitzen können Personen sitzen, deren Sicht beschränkt ist. Andere Personen, die gar nicht mit im Auto sitzen, sondern an einem anderen Ort im innen sind, haben keinen Zugang zu dem, was im Außen geschieht. Kommt die Person zu einem anderen Zeitpunkt ans Steuer, bemerkt sie eine Amnesie, ein häufiges Symptom der Dis. Manchmal blinzle ich und es sind Tage vergangen, erzählt eine der Bonnies.

Es gibt Bonnies, die sich untereinander absprechen können. Zum Beispiel, ob die Haarfarbe pink für sie okay ist. Wenn jemand dagegen wäre, hätten wir längst eine andere Haarfarbe, schreiben die Bonnies in ihrem Buch. Manche Entscheidungen werden aber auch – mehr oder weniger – allein getroffen. So hat 46 zum Beispiel geheiratet. Nur sie führt eine Liebesbeziehung zu ihrer Frau Maike, andere Personen sind mit ihr nur befreundet, oder kennen sich kaum.

Der Alltag

Niemand kann mit einem oder einer von uns befreundet sein, sagen die Bonnies. Ihre Wechsel sind manchmal, aber nicht immer kontrolliert. Eine Person gezielt nach vorne zu triggern, wollen sie nicht. Trigger, das können Gerüche, ein Datum, einzelne Worte, oder Farben sein, die einzelne Personen nach vorne ziehen. Oft, weil sie das so gelernt haben und eine Aufgabe für sie erwarten. Heute, erzählen die Bonnies, leiden sie nicht mehr unter akuter Gewalt. Sie haben ihre Dis akzeptiert und lernen immer mehr Personen kennen. Die Kommunikation im innen bleibt für sie eine beständige Aufgabe – denn im innen kann Krieg sein, erzählen sie. Ein Ziel ihrer Therapie sei eine gute Verständigung im innen. Zugleich gibt es, wie die Bonnies beschreiben, auch Innenpersonen, die eine Therapie verhindern wollen, zum Beispiel, weil sie zu Loyalität ihrer Täter gegenüber erzogen worden sind und Angst haben, dass zu viel verraten wird. Im Innen sind weiterhin Personen, so beschreiben es die Bonnies, die leiden, Personen, die allein sind, die das Ende der Gewaltspirale noch nicht erleben. Andere Personen, die früher nur während traumatischer Momente nach vorne kamen, können heute den Alltag kennenlernen. Isa erzählt in dem Buch der Bonnies von dem Tag, als sie zum ersten Mal in die Außenwelt kam, ohne Gewalt zu erleben. Bis dahin wusste sie nicht, dass es auch Gutes gibt. Sie kannte nur das Böse und konnte so nicht erkennen, dass das nicht die Normalität ist. Personen, die die Alltagswelt nicht kennen, müssen oft erst noch viel lernen. Wie man eine Toilettenspülung bedient, oder zu schmecken. Manchmal müssen sich ihre Augen erst über Monate an das Tageslicht gewöhnen.

Aufklärung

Laut der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO (kurz ICD) haben ca. 1-3 Prozent der Weltbevölkerung eine dissoziative Identitätsstörung. Das bedeutet, dass es ziemlich wahrscheinlich ist, selbst schon Personen mit Dis getroffen zu haben. Oft vermutlich, ohne es zu merken. Denn Ziel der Dis ist die Unauffälligkeit. Die Bonnies leisten mit ihrem Buch und ihrem Instagram-Account, auf dem ihnen über 100.000 Menschen, Aufklärungsarbeit. Sie wollen, dass mehr Menschen wissen, was eine Dis ist. Hinzusehen und das Gespräch zu eröffnen, helfe auf dem Weg zur Prävention von Gewalt, schreiben die Bonnies.

Medial wird die Dis dahingegen oft eindimensional dargestellt. Menschen mit Dis tauchen in Krimis und Thrillern auf, als Opfer, die bemitleidet werden, oder schräge, gewaltvolle Täter. Diese Darstellungen, so wie das zweifelhafte und problematische Video von Jan Böhmermann, in der er das Bestehen von Dis in Zweifel zieht, zeugen von fehlender Aufklärung. Eine Dis ist eine hochkomplexe Störung, die Fragen, die den Bonnies gestellt werden, reißen nicht ab. Sie beantworten sie immer weiter.

 

Hinweis: Als Grundlage für diesen Text diente das Buch “Eine Bonnie kommt niemals allein” von Bonnie Leben. Das Buch wurde dem Semikolon-Blog von Heyne-Verlag zur Verfügung gestellt.

Dieser Beitrag wurde von einer ärztlichen Psychotherapeutin redigiert. 

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Maja

“Psychische Erkrankungen begegnen uns häufiger als wir denken. Wir müssen hinsehen und darüber reden.”