Am Anfang: Eine Nachricht auf Instagram
„Hej… ich weiß nicht, inwieweit das interessant ist, aber ich habe einen Suizidversuch überlebt und bin mittlerweile – zumindest bei euch – bereit darüber zu reden.“ Diese Nachricht flattert im Juli in das Instagram-Postfach von Semikolon, abgeschickt von Nico. Auf ihrem Profilbild trägt sie eine Sonnenbrille und ist im Profil neben einer Hundeschnauze zu sehen. Ihre Nachricht überrascht mich. Erst tastet sie sich vor, aber dann legt sie doch sofort auf den Tisch, was sie dabei hat. Wir verabreden uns zum Telefonieren.
Ein paar Tage später klingelt mein Handy, es ist ein heißer Sommerabend. Ich eile durchs Treppenhaus, für das Gespräch mit Nico will ich alleine sein. Ich setzte mich auf die Stufen vor der Haustür, atme durch, denn ich will nicht, dass sie es merkt, aber ich habe Respekt vor dem Gespräch. Mir ist es wichtig, Nico Sicherheit zu geben, die professionelle Journalistin zu sein.
Aber hierauf bin ich nicht vorbereitet. Wie spricht man sich mit jemandem ab, bald über den Suizidversuch der Person zu sprechen und später darüber zu schreiben?
Es ist nicht der Elefant im Raum, es ist der ganze Raum und er geht nur auf, weil für Nico von Anfang an ganz klar ist, wofür sie mich kontaktiert hat. Ich habe als Journalistin gelernt, dass über Suizid in der Regel nicht berichtet wird, weil man so Nachahmungstaten verhindern will. Es ist ein Drahtseilakt: das Thema nicht fahrlässig zu behandeln und sich trotzdem zu trauen, es anzufassen. Denn tut man das nicht, dann bleibt das Thema Suizidalität gesellschaftlich in dieser dunklen Ecke, die uns Angst macht, bei der wir lieber wegsehen, über die wir nicht reden wollen.
Nico sagt, sie will es anders machen. Und ich will ihr zuhören.
Nico wohnt in Köln, ich in Berlin, also verabreden wir uns für ein Zoom-Gespräch in der darauffolgenden Woche. Ich sitze im Schneidersitz auf dem Sofa, Nico an einem Tisch, sie trägt eine dunkle Kapuzenjacke, im Hintergrund stehen Pflanzen. Ich starte das Aufnahmegerät, so haben wir es abgesprochen. „Mir ist es wichtig, Aufklärung zu betreiben, das ganze Thema Suizid zu entstigmatisieren“, sagt Nico am Anfang des Gesprächs. „Vielleicht ist meine Geschichte für irgendetwas gut“, fügt sie hinzu. Diesen Satz habe ich schon häufig von Menschen gehört, mit denen ich in Interviews über psychische Erkrankungen spreche. Ich kann das verstehen: dem Schlechten auch etwas Gutes abgewinnen wollen, das Gefühl, nicht alles war umsonst, helfen wollen. Ich finde das ehrenhaft. Trotzdem, wenn ich den Satz höre, wünsche ich mir auch oft, dass eigene Leidensgeschichten nicht noch für etwas gut sein müssten. Dass das Leid auch einfach scheiße gefunden werden darf.
„Ich habe mich so alleine gefühlt, ganz lange. Als wäre ich ein Alien“, sagt Nico. Dagegen will sie etwas tun. Dann erzählt sie ihre Geschichte. Zumindest die Geschichte, die irgendwann in einen Suizidversuch münden wird – und die mit unserem Interview weitergeht.
Der Teil der Geschichte
Mit siebzehn hat sich Nico mit einem Parasiten infiziert, in unregelmäßigen Abständen reagiert der Körper darauf wie auf eine starke Entzündung: mit starkem Erbrechen und Durchfall. „Da kam die totale Ohnmacht und Scham“, sagt Nico.
Sie hat Panikattacken bekommen, viele Ärzte schoben ihre Reaktionen auf körperliche Ursachen. Abi macht Nico trotzdem, „frag mich nicht wie“. Aus Angst vor Durchfall-Attacken hört sie auf zu essen. Irgendwann beginnt sie, sich vor Terminen den Finger in den Hals zu stecken. Wenn sie das Erbrechen absichtlich herbeiführt, hat sie die Kontrolle, denkt Nico. „Eine Essstörung passt gesellschaftlich besser zu einer 18-Jährigen als die Angst vor explosionsartigem Durchfall“, sagt sie. Ihre Depressionen verschlimmern sich, sie hat Suizidgedanken. Irgendwann, da ist Nico gerade 21, bittet sie ihre Eltern um Hilfe. Sie weisen sie in eine Klinik in Bad Oyenhausen ein, dort bekommt sie „die Essstörung in den Griff“, wie sie es ausdrückt. „Aber ich bin da wie eine trockene Alkoholikerin. An der Stelle bin ich nicht mehr unantastbar.“ Es geht Nico besser, sie geht zur ambulanten Therapie. Irgendwann kommt die Angststörung aber trotzdem wieder. Während eines Auslandssemesters in Schweden geht es Nico schlechter. „Ich hatte Panikattacken und habe mich betrunken, bevor ich zu irgendwelchen Veranstaltungen gegangen bin. Einfach, um der Angst zu entkommen“, erinnert sie sich. Nico beginnt, Medikamente zu nehmen, sie schließt die Uni ab, findet einen Job, verliebt sich.
Der Mann, in den sie sich „verknallt“ hat, wie Nico erzählt, ist untreu, auf der Arbeit kommen Probleme auf. Sie verliert ihren Job aufgrund von Intrigen und erhält eine bedrohliche E-Mail. Daraufhin schleicht sich ein Verfolgungswahn ein, vielleicht eine akute Psychose, sagt Nico rückblickend. Während sie erzählt, zündet sie sich eine Zigarette an und pustet den Rauch Richtung Fenster. Sie erzählt nicht einfach ihre Lebensgeschichte, sie erzählt den schwierigen Teil. Nicht von Freund:innenschaften, Urlauben, Partys. Sie zögert und ich weiß, was bald kommen wird. Im Rückblick wirkt das so, als würde sich alles auf diesen Punkt konzentrieren. Als würden alle Ereignisse, die Nico mir gerade erzählt hat, sich logisch zusammenfügen. Aber das funktioniert nur in der Rückschau so. Damals, 2019, mit 30, war Nico vor allem verzweifelt.
Die Paranoia und die damit einhergehende Angst wird mehr, zwei Wochen lang schläft sie kaum, dafür trinkt sie viel Alkohol. Ein Teufelskreis, sagt Nico. Sie macht eine Pause, atmet den Rauch aus.
„Das Ding ist: Der Suizidversuch war kein Hilferuf. Mein Plan war schon, dass das funktioniert.“ Während sie spricht, zeigt sie auf die Narbe an ihrem Handgelenk. „Hier, man sieht es noch.“
Ich weiß nicht, ob ich Nico nach dem Moment fragen soll, so wie ich es mir vorher aufgeschrieben habe. Vorsichtig formuliert. „Möchtest du davon erzählen …“.
Aber sie fängt von ganz alleine an, „das ist jetzt harter Tobak“, leitet sie ein.
„Ich hatte das alles erst anders geplant“, sagt Nico. Sie erzählt, was dieser Plan war. Er soll nicht in diesem Artikel stehen. „Es war mitten in der Nacht“, berichtet Nico. „Wie das bei Psychosen oft so ist, hatte ich dieses ‚jetzt oder nie‘ Gefühl. Ich wollte meine Mitbewohnerin nicht wecken, also bin ich einfach in meinem Zimmer geblieben und dachte, jetzt muss es passieren.“
Es muss passieren – damit meint Nico, dass sie sich das Leben nehmen wollte.
Aber, es sollte nicht schlimm aussehen, wenn sie gefunden wird. Daran hat Nico noch gedacht. Sie ist leise, betäubt sich mit Alkohol gegen die Schmerzen.
Irgendwann schaut sie an sich herunter, macht ein Blitz-Foto mit ihrer Handkamera. Dann schaltet es um in ihrem Kopf. „Ich dachte: Was zum Fick ist das?“, erzählt Nico. Sie wählt die Nummer des Notrufs, klopft bei ihrer Mitbewohnerin. „Hier klingelt gleich der Krankenwagen, bleib ganz ruhig“, sagt sie zu ihr. Nico ist auf einmal ganz im Funktionsmodus. „Ich habe im Krankenwagen angefangen, Witze zu machen. Die haben gefragt, ob ich was trinken will und ich meinte: Ob rot oder weiß ist mir egal, Hauptsache trocken.“ Sie macht eine Pause. „Das war alles so absurd. Ich habe die Situation selbst nicht mehr verstanden.“
Im Krankenhaus kommt Nico in die Chirurgie, ihre Mitbewohnerin informiert Angehörige. Diese gründen eine WhatsApp-Gruppe, ein paar Wochen später schenkt ihre Schwester ihr einen Kalender, in dem jeden Tag eine Kleinigkeit auf sie wartet. Wie ein Adventskalender, nur nicht vom 1. bis 24. Dezember. „Das war sehr wertvoll für mich“, sagt Nico. Trotzdem habe sie sich geschämt, keine Worte gehabt zu erklären, „was sie sich dabei gedacht habe“.
„Wenn Menschen in den ersten Wochen zu mir gesagt haben: ‚Wie schön, dass du da bist‘, habe ich gedacht: Ich finde es ziemlich scheiße. Ich will am liebsten die nächste Brücke suchen“, sagt Nico. Sie war wütend, auf sich selbst, auf irgendwie alles.
Das Danach
Einige Wochen nach ihrem Suizidversuch ist Nico auf einer geschlossenen psychiatrischen Station untergebracht. Mitgemacht hat sie das aus Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihren Mitmenschen, sagt Nico, außerdem habe sie niemandem zur Last fallen wollen. Wie es ihr während dieser Zeit ging, will ich von ihr wissen. „Ich war komplett taub. Nur traurig, dass es nicht funktioniert hat“, sagt sie.
Freunde und Freundinnen bieten ihr an, eine Weile bei ihr einzuziehen. Nico ist erschöpft, will das alles nicht. „Das kann niemand tragen, der dafür keine Ausbildung hat“, sagt sie. Also wird Nico in eine andere Klinik überwiesen, dort ist sie einige Monate stationär, dann in der Tagesklinik untergebracht. Ein halbes Jahr lang hat sie intensiv Therapie. Wenn sie davon spricht, hellt sich Nicos Blick auf. Schließlich steht die Diagnose einer Autismusspektrums-Störung für Nico im Raum. Für sie macht das total Sinn, sagt sie. Bei Frauen wird Autismus häufig erst sehr spät erkannt. „Ich hatte immer das Gefühl, dass ich falsch bin“, sagt Nico. „Auch diesem Gefühl entsprang die Suizidalität. Wenn ich mit der Diagnose Autismus auf mein Leben schaue, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ich habe schon so viele Diagnosen bekommen, mein Leben lang. Aber nie hatte ich das Gefühl, dass es richtig passt.“
Nachdem sie aus der Klinik entlassen wird, adoptiert Nico eine Hündin. „Ich wusste, wenn sie da ist und ich mich um sie kümmern muss, baue ich keine Scheiße“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. „So doof das auch klingt, aber sie ist meine Lebensversicherung“.
„Wie geht es Dir gerade?“, frage ich.
„Komisch“, antwortet Nico. „Alles wovon ich spreche ist ganz nahe, aber dann ist es wieder, als würde ich von einer fremden Frau erzählen, weil das alles so dissoziiert ist. Mein Suizidversuch war im November. Im Februar habe ich zum ersten Mal wieder geschmeckt. So neben mir war ich.“
Ob es Warnzeichen für ihren Suizidversuch gegeben habe? Im Internet findet man viele Listen. Man solle aufpassen, wenn jemand Dinge verschenke, Beziehungen vernachlässige, Abschieds-Bemerkungen mache.
„Meine beste Freundin hat mich ganz direkt gefragt, ob ich suizidal bin, nur drei Tage vor dem Versuch“, sagt Nico. Ihre Antwort damals war nein. Nico hat nicht gelogen. „Das war komplett ernst gemeint so“, sagt sie.
Keine Voldemort-Nummer
Drei Jahre sind vergangen, seit der Nacht, in der sie den Rettungswagen gerufen hat.
Einige Freundschaften haben sich seitdem entfernt. Nico sagt, sie macht es niemandem zum Vorwurf, nicht damit umgehen zu können. Andere Menschen sind geblieben, haben verstanden, wie ernst eine psychische Erkrankung sein kann. „Zum Glück ist das Thema keine Voldemort-Nummer geworden, über die man nicht reden darf“, sagt Nico. „Es ist halt passiert.“
Mittlerweile hat sie einem neuen Job als Mediendesignerin, bei dem sie von zu Hause aus arbeiten kann. Sie geht dreimal am Tag mit ihrem Hund Gassi, macht eine Traumabewältigung-Therapie, redet über das, was passiert ist. Manchmal sind die Gedanken an Suizid trotzdem noch da. „Dieses Schreckensgespenst verschwindet nicht einfach. Aber ich versuche, der Todessehnsucht jetzt etwas entgegenzusetzen. Je offener ich damit umgehe, desto besser ist es für mein Umfeld und für mich“, sagt Nico.
Wie es ihr heute geht, auf diese Frage hat Nico viele Antworten.
„Ganz im Leben zurück bin ich nicht“, sagt sie schließlich. „Wenn man versucht, sich das Leben zu nehmen, stirbt etwas in Dir. Es geht nicht weiter wie davor, der Einschnitt ist zu tief. Aber gerade geht es mir nicht schlecht und ich bin nicht gefährdet aktuell“, sagt sie. Wir nähern uns dem Ende unseres Gesprächs. „Ich wünsche mir, dass die Berührungsängste weniger werden“, sagt Nico. „Aber es darf trotzdem nicht wie eine Bagatelle behandelt werden. Am Ende sind psychische Erkrankungen ein bisschen wie Krebs. Manche haben Glück und es geht einigermaßen leicht wieder weg. Andere sterben daran.“
Nicos Hund kommt ins Zimmer gelaufen, so als habe er gespürt, dass wir bald auflegen. Sie nimmt ihn auf den Schoß, streichelt ihn. Ich freue mich, das Tier zu sehen, was ihr so wichtig ist.
Was sie gleich noch macht, frage ich Nico.
Spazieren gehen, mit dem Hund und ihrem Freund, sagt Nico. „Und Du?“, fragt sie zurück.
Ich will auch spazieren gehen.
Unsere Verabschiedung ist warm und fühlt sich anders als als bei den Interviews, die ich sonst führe. Ich bin erschöpft, viele Sätze, die Nico eben noch gesagt hat, kreisen durch meinen Kopf, während ich durch das dunkle Berlin laufe.
Ich werde ganz ruhig. Und merke, dass ich dankbar bin. Dafür, dass Nico mir ihre Geschichte erzählt hat und mir vertraut, dass ich sie aufschreiben werde. Dass sie die Dinge so sagt, wie sie sind. Manchmal ein bisschen flapsig und darin genau richtig.
Ich glaube, es stimmt, was Nico sagt. Man darf kein Voldemort-Ding aus dem Thema Suizid machen. Nicht nur wird es dann schwerer, nach Hilfe zu fragen, es kann so auch nur schwer integriert werden. Nico hat mir ihre Geschichte erzählt, vom alleine sein und der Scham danach, von den Hürden und dem Weg Bergauf und den Gedanken, die trotzdem noch anklopfen. Und sie hat mir die Angst genommen, ihr dazu Fragen zu stellen.
Telefonseelsorge Deutschland, kostenfrei, anonym und rund um die Uhr erreichbar: 0800 / 111 0 111
Eine Liste der bundesweiten Hilfsstellen findet du hier:
In jedem Krankenhaus ist es möglich, sich zu Tag und Nacht in der Notaufnahme zu melden. Auch Rettungsdienste (112) und Polizei (110) können im Notfall angerufen werden.
Auch wenn du dir Sorgen um einen Menschen machst, kannst du dich an die Hilfsangebote wenden.