Gedankenaustausch
Du bist ihr letztes Jahr verfallen und ich bin late to the party: Letzte Woche habe ich das erste Buch von Tove Ditlevsen fertiggelesen. Damit bin ich zum Glück nicht alleine, denn auch der Verlag „Aufbau“ schreibt von einer „literarische Wiederentdeckung“ der Autorin aus Kopenhagen. Sie gilt als eine Schriftstellerin, die nicht in ihre eigene Zeit passte. Sie lebte von 1917 bis 1976 und beim Lesen habe ich immer gedacht „das könnte auch genau so heute alles geschehen“. In ihrem Roman „Gesichter“, der 1968 erschienen ist, schreibt Ditlevsen über eine Frau aus der Oberschicht, Lise Mundus. Sie ist erfolgreiche Kinderbuchautorin, Mutter und erkrankt an einer paranoide Schizophrenie.
Was war es, dass wir uns beide auf deinem Balkon angeschaut haben und gleichzeitig ausgesprochen haben, dass wir unbedingt über dieses Buch schreiben müssen?
Weißt du was lustig ist? Ich wollte schon vor zwei Jahren über das Buch schreiben. Damals bin ich durch eine Bahnhofsbuchhandlung gelaufen und habe mir „Gesichter“ abfotografiert, weil ich nach dem Klappentext dachte: das könnte spannend sein für Semikolon.
Als wir uns dann gestern gegenübersaßen, dachte ich: das ist kein Buch, das man zuklappt, ins Regal stellt und dann vergisst. Die Introspektion von Lise, die an Schizophrenie leidet, ist so fein und klug beschrieben, dass man ihren Gedanken manchmal so sehr folgt, dass man immer wieder droht den Bezug dazu zu verlieren, was real ist und wo die Erkrankung aus ihr spricht. Noch ein Jahr nach dem ersten lesen denke ich manchmal an das Buch zurück und frage mich, wo die Grenze zwischen Gedanken und Außenwelt verlaufen. Überall sieht Lise Mundus verschiedene Gesichter. Dabei, stellt die Ich-Erzählerin fest, dürfe doch jeder Mensch nur ein Gesicht haben. Diese Darstellung ist mir sehr nahe gegangen. Wie ging es dir beim lesen - wie hast du die Beschreibungen der Schizophrenie wahrgenommen?
Mir ging es genau so! Ich fand es so treffend beschrieben, dass es für alles in Lises Gedankenwelt Erklärungen gab, die ihr so logisch erschienen sind. Die Menschen um Lise herum können aber nur ihre Handlungen bewerten, die manchmal völlig abstrus wirken. Ich denke an das Beispiel, als andere Menschen Lise zum Trinken überreden wollten und sie es ablehnte. Ihre Mundwinkel waren schon eingerissen. Aber für Lise war das Wasser, was man ihr gab vergiftet.
Im Konstruktivismus wird der Wahrheitsbegriff nicht als objektive und unabhängige Entität betrachtet, sondern als das Ergebnis sozialer, kultureller und individueller Konstruktionen. Das bedeutet, dass Wahrheit durch menschliche Interpretationen und Perspektiven geformt wird. Kann man hinter diesem Vorwissen nun jemandem seine Wahrheit absprechen oder sie gar als Unwahrheit kategorisieren? Was tut man, wenn mein Gegenüber an eine andere Wahrheit glaubt als man selbst und wir sie sich von der geeinigten Realität entfernt?
Diese Fragen sind das, was das Buch bei den Leser:innen lässt. Vor allem erlebt man Lise und ihre Familie nämlich dabei, daran zu scheitern, kein Verständnis füreinander aufzubringen, durch Ungeduld, Krankheit, Erschöpfung.
Diese Zustände lassen die autobiografischen Züge des Romans durchschimmern. Besonders deutlich wird das an einigen Details der Hauptfigur. Mundus zum Beispiel war der Mädchenname von Tove Ditlevsens Mutter. Außerdem ist Lise, wie Tove Ditlevsen, Schriftstellerin. In dem Roman ist mit Lise den Preis der dänischen Akademie (Det Danske Akademis Store Pris) ausgezeichnet worden, dem wichtigsten dänischen Literaturpreis. Tove Ditlevsen, die den Preis zu Lebzeiten nicht verliehen bekommen hat, hat dies stets so gedeutet, dass sie als Autorin nicht ernst genommen wird. Auch das taucht bei Lise Mundus auf. Sie gewinnt den Preis, allerdings in der Kategorie Kinderbuch, die es in der Realität nicht gibt. Über diesen Umweg macht Tove Ditlevsen deutlich, wie sie sich als schreibende Frau herabgesetzt fühlt. Außerdem gibt es einige Ähnlichkeiten zwischen Lise Mundes Ehe und Tove Ditlevsens oft beschriebener Beziehung zu Victor Andreasen, mit dem sie 22 Jahre lang verheiratet war. Das sie aus ihrer Biografie für ihre Kunst geschöpft hat, ist kein Geheimnis. Sie schrieb: “Memory, that library of the soul from which I will draw knowledge and experience for the rest of my life.”
Trotz all der Parallelen, die zu finden sind, wäre es dennoch so fatal wie vermessen, Lise Mundus als mehr oder weniger direktes Abbild von Tove Ditlevsen zu deuten. Aber zurück zu der Erkrankung, die so viel Raum einnimmt. Wie hast du es wahrgenommen: ist sie von Anfang an da, oder entwickelt sie sich erst?
Die Krankheit ist von Beginn an unterschwellig da und nimmt während der Geschichte ihren Lauf. Am Anfang des Buches war ich mir als Leserin selbst nicht sicher, ob sich nicht wirklich alle gegen Lise verschworen haben könnten. Die Krankheit argumentiert nämlich ziemlich schlüssig und die eigene Realität ihres Kopfs spült ihr Bilder herein, die täuschend echt sind. Die Trennung zur realen Welt wird dadurch fließend und führt zu Verwirrung.
Selbst als Lise in die Psychiatrie kommt, gab es Momente, in denen ich mit ihr paranoid war. Ein Schlüsselpunkt war für mich das Aussprechen der Diagnose. Besonders berührend habe ich die kleinen Momente der Klarheit für Lise empfunden. Manchmal war mein Mitgefühl bei ihr, manchmal bei den behandelnden Ärzten und Menschen um sie herum.
Wie hast du den Ort der Psychiatrie wahrgenommen?
Die Psychiatrie ist mir fast schon als feindlicher Ort erschienen. Aus der Außenperspektive versteht man, dass der Protagonistin in der Psychiatrie geholfen werden soll. Ihre Wahrnehmung weicht davon aber ab. Auf sie wirken Ort und Krankenschwestern bedrohlich - durch die paranoiden Züge der Schizophrenie denkt sie, in ihren Kopfkissen wären Mikrofone versteckt und hat Angst, vergiftet zu werden. Eine Schwester versucht schließlich, sie unter Zwang zum Trinken zu bewegen. Für die Hauptfigur ist das eine schlimme Erfahrung. Sie fürchtet um ihr Leben. Als Leserin versteht man, dass sie trinken muss, um zu überleben. Die verschobene Wahrnehmung der Hauptfigur macht den Aufenthalt in der Psychiatrie dennoch zu einem gruseligen Szenario.
Die Erkrankung führt dazu, dass Lise den Menschen um sich herum misstraut. Das trifft sowohl ihre nahen Angehörigen, als auch die Psychiater, die sie behandeln. Sie entfernt sich nicht nur von der Realität, sondern auch von ihrer Familie und Freundinnen.
Spannend finde ich, dass die einzige Person der Lise vertraut, eine Mitpatientin auf ihrer Station ist (von der ich als Leserin übrigens immer noch nicht sicher bin, ob es die wirklich gegeben hat). Sie ist mit Lise im „Club der Verrückten“ und hat dadurch einen Vertrauensvorschuss. Sie ist die einzige, die Lise mit ihren Ängsten und ihren paranoiden Gedanken ernst nimmt und ihr beispielsweise Wasser ans Bett bringt, welches nicht „vergiftet“ ist. Lises Psychose hat sich eine Protagonistin gesucht: die Haushälterin, welche sich in Lises Abwesenheit um die Kinder kümmert.
Die Rolle der Haushälterin ist besonders im Hinblick auf Tove Ditlevsens Biografie interessant, finde ich. In ihrem Leben hat sie sich, wie sie es unter anderem in ihrem autofiktionalen Roman "Abhängigkeit" berichtet, immer wieder Hilfe von Kinder- und Hausmädchen geholt. In Phasen schwerer Drogenabhängigkeit waren es oft Bedienstete, die sich um die Erziehung ihrer Kinder gekümmert und, so klingt es immer wieder durch, eine mütterliche Rolle für die Kinder eingenommen haben. Die Hauptfigur selbst kam mir in eigentlich allen Begegnungen mit ihrer Familie sehr unsicher vor. Insbesondere in ihrem Familienkontext hinterfragt sie die Liebe und Konstellationen untereinander immer wieder - und damit auch die eigene Rolle.
Wie nimmst du die Rolle der Kinder in "Gesichter" wahr?
Gerade zu Anfang ihrer Psychose hat Lise zunehmend Angst, die Bindung zu ihren Kindern zu verlieren. Das Kindermädchen stellt für sie eine Bedrohung da und sie fürchtet, dass sie eine mütterlichere und engere Beziehung zu ihnen hat, als sie selbst. Die Angst der Protagonistin Lise, die Verbindung zu den Kindern zu verlieren, bezieht sich aber zudem noch auf den eigenen Mann. Sie fürchtet, dass er eine besondere Beziehung zu ihrer ältesten Tochter hat und fühlt sich von ihr als Ehefrau fast ausgestochen.
Die Kinder tauchen aber kaum als Individuen auf, sondern vielmehr als Objekte, um die Lise gedanklich in der Angst, sie zu verlieren, kreist. Ihr mentales wegdriften von der Realität wird in dieser Beziehung und der Furcht vor Konkurrenz und Verlust besonders deutlich.