Zusammenfassung: Der Steppenwolf, Hermann Hesse (1927)
Hermann Hesses “Steppenwolf” beginnt mit den Aufzeichnungen eines Mannes, der sich an die Leser:innenschaft richtet und ihnen von seiner Begegnung mit dem “Steppenwolf” erzählt, der sein Nachbar ist. Er beschreibt ihn als in sich gekehrte und skurrile Person, zu der er keinen Zugang findet und vergleicht ihn mit einem einsamen Wolf. Eines Tages findet er die Aufzeichnungen des Steppenwolfes und so beginnt der Einblick in dessen Seelen- und Gedankenwelt. Der Steppenwolf reflektiert über sein unglückliches Leben und denkt darüber nach, dieses zu beenden. Im Laufe der Geschichte trifft er auf Hermine, die fern vom bürgerlichen Ideal lebt. Sie fordert ihn heraus, neue Seiten des Lebens kennenzulernen. Er lässt sich von ihren Ideen mitreißen und entdeckt währenddessen neue Seiten seiner selbst.
Gedankenaustausch
"Der Steppenwolf" lag eine Weile ganz oben auf meinem Bücherstapel. Ich habe mich gefreut, als wir entschieden haben, es zusammen zu lesen. Bis dahin war mein Eindruck vom Steppenwolf immer, dass das ein Buch ist, was vor allem von ernsten oder traurigen Jugendlichen gelesen wird und dass die Lektüre des Buchs mehr als reine Kanon-Lektüre für sie bedeutet. Es hat die Aura einer "Bibel für Depressive", zumindest habe ich diesen Ausdruck einige Male dazu gehört.
Ich habe mich deswegen zwischendurch immer wieder gefragt, wie ich mit sechzehn über "Den Steppenwolf" gedacht hätte.
Mir ist Hesse zu Beginn meines dritten Semesters wiederbegegnet. Ich studiere Sonderpädagogik und habe eine Vorlesung zum Thema Kinder-und Jugendpsychiatrie belegt, in der der Dozent uns einen psychiatrischen Befund aus dem Jahr 1892 gezeigt hat. Die Diagnose: Melancholie; sowie (Größen)Wahnvorstellungen und Besessenheit des Bösen.
Es war der klinische Bericht von Hermann Hesse, der mit 15 Jahren in eine sogenannte “Privatheilanstalt” eingewiesen wurde. Die Erfahrungen, die Hesse dort gemacht hat und die ihn umtreibenden Fragen nach der eigenen Indentität, hat er später im “Steppenwolf” verarbeitet. Mit diesem Hintergrund habe ich begonnen, das Buch zu lesen.
Hast du beim Lesen viel an dieses Wissen gedacht?
Total! Auch wenn der Protagonist des Buches ein mittelalter Mann ist, habe ich geglaubt, den jüngeren Hesse immer wieder zu erkennen. Ich glaube, dass die Figur des “Steppenwolf” schon immer ein Teil seiner Selbst gewesen ist. Die Fragen, mit denen sich Hesse literarisch auseinandersetzt, waren 1927, als das Buch erschienen ist, fortschrittlich und revolutionär. Kein Wunder, dass der „Steppenwolf“ vom NS-Regime verboten wurde. Nicht nur weil er sich für den Frieden ausspricht und Kritik übt; auch weil er zum Hinterfragen anregt und existenziellen Fragen des Lebens stellt.
Also ließt du das Buch zumindest Semi-autobiografisch?
Oder glaubst du, der Steppenwolf konnte nur so geschrieben worden, weil persönliche Eindrücke des Autoren darin stecken?
Ich glaube, dass Hesse schon früh das Gefühl vermittelt wurde, er würde nicht in die Gesellschaft passen. Ohne diesen Hintergrund wäre das Buch nicht zu Stande gekommen.
Im „Steppenwolf“ werden die Menschen in Gruppen unterteilt. Eine davon wird dadurch charakterisiert, dass sie sozusagen „einen Wolf in sich tragen“ würden. Dieser Wolf verkörpert eine wilde, rohe, ungestüme, von der Norm abweichende Seite - das ist der Steppenwolf. Aber der Wolf macht nicht das ganze Wesen eines Menschen aus. Es gibt daneben auch eine dem Alltag zugewandte Seite.
Durch die scheinbare Unvereinbarkeit dieser Seiten entsteht Leid bei den Betroffenen. Dieses Modell, das den ganzen Roman durchzieht, erinnert an das Anteile-Modell in der systemischen Therapie, die erst in den neunziger Jahren konzeptualisiert wurde.
Irgendwann merkt der Protagonist aber, dass der Mensch weitaus vielschichtiger ist, als der bürgerlich Mensch und der Wolf… er lernt im Laufe des Buches sowohl andere Seiten des Wolfes, als auch des Menschen kennen. Und kommt dann darauf, dass der Mensch weitaus mehr ist, als bloß zwei Seiten in sich zu tragen: „[…] dass außer dem Wolf, hinter dem Wolf, noch viel anderes lebt. […] Daß da auch noch Fuchs, Drache, Tiger, Affe und Paradiesvogel wohnen.“ S.85
Hesse vergleicht die menschliche Psyche mit einer Zwiebel, denn so wie sie haben wir mehrere Schichten. Auch wenn er es noch nicht „Anteile“ genannt hat, so ist auch Hesse Ressourcen- und Lösungsfokussiert unterwegs gewesen.
Diese Zerrissenheit und die unterschiedlichen Bedürfnisse werden in vielen verschiedenen Momenten zum zentralen Motiv und Dreh und Angelpunkt des Leidens - fast wie in „zwei Seelen schlagen ach in meiner Brust“ aus Goethes Faust. Schon auf der zweiten Seite des Textes beschreibt der Protagonist, dass ihm nichts mehr zuwider ist als eine mittelmäßige Zufriedenheit. Er steigert sich stattdessen lieber in Wut und Schmerz - all das findet er besser als die scheinbare Abwesenheit von Gefühl. Und gerade das ist die eigentliche Depression: die Leere.
Woraus glaubst du, schöpft der Steppenwolf Stärke?
Ich glaube aus sich selbst und der Neugierde herauszufinden, was noch in ihm steckt und auf die Entwicklung der beiden Anteile.
Natürlich geben ihm auch äußerliche Impulse eine Stütze. Die Begegnung mit der Frau, die ihm zeigt, was Liebe und das Ausgehen für die nicht-bürgerliche Schicht bedeutet. Sowohl der Steppenwolf, als auch „der Bürger“, die in der Hauptfigur vereint sind, machen eine enorme Entwicklung durch.
Findest du, dass sie letztendlich zusammenkommen?
Das ist eine schwierige Frage! Der Protagonist nimmt mit dem Verlauf der Handlung mehr und mehr am äußeren und gesellschaftlichen Leben teil. Ich glaube, ihm wird in dem Kontakt mit anderen mehr über sich selbst bewusst.
Auch dadurch setzt er sich damit auseinander, dass sein Wesen nicht aus zwei voneinander gespalteten Persönlichkeiten besteht, sondern aus ganz vielen verschiedenen Teilen, die erst alle zusammen sein “Ich” ergeben. Sie auszubalancieren ist eine Aufgabe, die nie aufhört, glaube ich.