Sexualisierte Gewalt Interview Lisa

Lisa über Sexualität nach sexualisierter Gewalt

"Sexualisierte Gewalt ist Gewalt, kein Sex."

Lisa spricht öffentlich über ihre posttraumatische Belastungsstörung und wie es sich anfühlt, von sexueller Gewalt betroffen zu sein. Im Interview mit Semikolon erzählt sie davon, wie sie ihre Sexualität heute lebt, wie der Weg bis dahin aussah, dass sie das Freiheit nennen kann und was Kommunikation damit zu tun hat.

Inhalt

Lisa ist 29 Jahre alt, lebt in Hamburg und postet hat 2022 ihren Blog ptbs_leben_lernen ins Leben gerufen, auf dem sie teilt, wie sie heute mit ihrer posttraumatischen Belastungsstörung umgeht. Denn: Lisa hat sexualisierte Gewalt erlebt. Heute setzt sie sich bewusst mit ihrer Sexualität auseinander. Dadurch hat sie Freiheit gewonnen, sagt sie. Lisa wünscht sich, dass mehr über Sexualität nach dem Erleben von sexueller Gewalt gesprochen werden würde. Sie will Mut machen: Sexualität muss danach nicht für immer ein Tabu bleiben, sondern kann auch etwas Schönes werden. 

Welche Formen kann Sexualität nach einem Trauma annehmen?

Der Umgang mit Sexualität nach dem Erleben von sexueller Gewalt ist sehr unterschiedlich. Es gibt Betroffene, die ihre Libido verlieren und die körperliche Schmerzen von ihrem Trauma davontragen. Dann ruft Sexualität oft Ängste, Unwohlsein und Ablehnung hervor, sodass sie in die Vermeidung von Sexualität gehen. Das nennt man auch Hyposexualität. Bei anderen Betroffenen kann es im Gegenteil dazu führen, dass sie zu einem risikoreicheren Sexualverhalten, also häufig wechselnde Geschlechtspartner:innen, Sex unter Alkohol oder Drogenkonsum, risikoreichen und schmerzinduzierende Sexualpraktiken neigen, sogenannter Hypersexualität.

Öffentliches Sprechen über Trauma und Sexualität

Semikolon: Du sprichst über dein Trauma und sexualisierte Gewalt. Wie hast du dich dazu entschieden, so öffentlich damit umzugehen?

Lisa: Ich habe lange überlegt, ob ich nachträglich Anzeige gegen den Täter erstatte und mit einer Anwältin darüber gesprochen. Aber der Weg bei einer solchen Anzeige ist oft lang und  das Ergebnis offen. Ich habe mich dazu entschieden, dass ich nicht möchte, dass das Thema noch die nächsten fünf Jahre über mir schwebt und ich ständig damit konfrontiert werde. Dafür habe ich mich dazu entschieden, offen über das Thema zu sprechen. Darüber, was mir passiert ist und was ich in den letzten Jahren gelernt habe. Ich will anderen Mut machen: Man bleibt nicht für immer Opfer.

Semikolon: Heute soll es um Sexualität nach sexualisierter Gewalt gehen. Warum ist es wichtig, darüber zu sprechen?

Lisa: Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, haben danach oft Probleme im sexuellen Kontakt. So ging es mir auch. Scham und Unsicherheit haben eine große Rolle gespielt und dieser Themenbereich blieb deswegen in der Therapie lange unberührt. Dabei ist Sexualität etwas Schönes, was man wieder für sich zurückgewinnen kann. Es muss nichts Blödes bleiben, dem man ausgeliefert ist. Deswegen ist es wichtig, darüber zu sprechen.

Anzeichen sexualisierter Gewalt

Semikolon: Dein Trauma war dir nicht immer bewusst. Wie hast du gemerkt, dass da etwas ist?

Lisa: Rückblickend gab es 5000 Punkte, bei denen man hätte sagen können: Okay, das ist irgendwie auffällig. Für mich war das aber der Normalzustand. Wenn ich ein paar Jahre zurückdenke, dann merke ich, dass ich immer unter Strom stand. In einer Hochphase habe ich Vollzeit gearbeitet, nebenbei studiert, einen Arabisch-Kurs gemacht und mich sozial engagiert. Ich habe alles getan, um niemals eine Pause zu haben.

Semikolon: Gab es Anzeichen, die auf ein Trauma durch sexualisierte Gewalt hingedeutet haben?

Lisa: Ja. Ich konnte zum Beispiel kein Sperma sehen oder es anfassen. Dann musste ich würgen und es ging mir schlecht. Und schon seit meiner Kindheit habe ich eine ausgeprägte Angst vor einer Schwangerschaft, was dazu führte, dass ich beim Sex immer irgendwie angespannt war.

Mir war bewusst, dass es anderen Menschen mit diesen Themen nicht so geht, aber ich dachte, ich bin halt so. Erst bei meinem ersten Klinikaufenthalt konnte ich nach und nach  hinsehen. Das hat viel Kraft und Mut gekostet.

Auch dort zeigten sich übrigens schon zu Beginn deutliche Anzeichen. Ich konnte zum Beispiel nicht alleine mit einem Mann in einem Raum sitzen. In der ersten Zeit habe ich dann mit meinen männlichen Therapeuten immer nur draußen Therapie gehabt.

Semikolon: Wie hat das Wissen über dein Trauma deinen Alltag verändert?

Lisa: Es hat für mich einen großen Unterschied gemacht, die dissoziativen Barrieren zu durchbrechen. Seit meinem sechzehnten Lebensjahr hatte ich depressive Phasen. Seitdem ich aber speziell auf mein Trauma bezogen behandelt werde, sind die Depressionen weg.

Ich verstehe jetzt auch, dass es Gründe gibt, warum einige Reaktionen meines Körpers so stark sind und ich mich manchmal völlig von der Angst überschwemmt fühle. Ich bin viel wohlwollender mit mir selbst geworden.

Für mich ist außerdem klar, dass ich keine Kinder haben möchte. Vielleicht ist das auch von der Summe meiner Erfahrungen geprägt.

Sexualität und Partnerschaft

Semikolon: Wie war dein Umgang mit Sexualität bevor du dich mit der sexualisierten Gewalt, die du erlebt hast, auseinandergesetzt hast?

Lisa: Ich habe mich während sexueller Handlungen oft nicht mit meinem Körper verbunden gefühlt und nur wenig gespürt. Auch, dass ich kein Sperma sehen konnte, war einschränkend. Mir tat das meinem Partner gegenüber oft unglaublich leid und habe mich für meine Reaktionen geschämt. Ich habe mich auch oft benutzt gefühlt, was aber gar nichts mit meinem Partner zu tun hatte.

Semikolon: Wie bist du gemeinsam mit deinem Partner damit umgegangen, dass Sex ein schwieriges Thema für dich war?

Lisa: Ich habe einen zauberhaften Partner, der mir immer das Gefühl gegeben hat, dass das okay ist. Ich habe aber auch gemerkt, dass er manchmal hilflos war und nicht wusste, was er machen soll. Er wusste ja auch nicht, was los war. Es gab deswegen auch längere Phasen, in denen wir keinen Sex hatten, was für uns beide belastend war.

Wir sind seit fast zehn Jahren zusammen und er hat quasi meinen ganzen Weg begleitet. Er war der erste Mensch, vor dem ich ausgesprochen habe, was ich erlebt habe. Zu wissen, was los ist, hat es leichter gemacht. Die Symptomatik hat sich erst mal nicht verändert, aber es hat das Ganze nachvollziehbarer gemacht.

Semikolon: Wie sieht heute dein Umgang mit Sexualität aus?

Lisa: Ich war noch ein zweites in der Klinik und habe ganz bewusst an dem Thema sexualisierte Gewalt gearbeitet. Sexualisierte Gewalt ist Gewalt, kein Sex. Sie verursacht ein Trauma und oftmals entsprechende Traumafolgestörungen wie bei mir die PTBS. Das ist das eigentliche Problem.

Trotzdem ist da aber die Verknüpfung zwischen den Traumathemen und der Sexualität als erwachsener Mensch da, das ist ja das Gemeine. Mein ganzes Alarmsystem ist bei der Trauma-Arbeit stark hochgefahren, sodass ich zwischendurch dachte, okay, ich habe einfach nie wieder Sex. Das ist alles viel zu anstrengend.

Dennoch habe ich in und auch nach der Klinik mit meinen Therapeut:innen nicht nur am Trauma, sondern ganz bewusst auch an dem Thema Sexualität und meinen Problemen damit gearbeitet. Zum Beispiel habe ich das Bild entwickelt, imaginäre Handschuhe überzuziehen, wenn die Angst vor Sperma beim Sex hochkommt.

Gemeinsam mit meinem Partner habe ich auch ganz langsam reingespürt, was sich gut anfühlt. Manchmal war es dann auch einfach nur kuscheln und gar kein Sex. Das hat den Druck rausgenommen. Ich musste erst wieder lernen, dass sich Berührungen gut anfühlen können.

Semikolon: Hattest du dabei Angst, deinem Partner damit zu viel Verantwortung zu geben?

Lisa: Ja, besonders am Anfang war das schwer für mich. Er hat mich auch schon durch depressive Episoden begleitet und war viel für mich da. Aber er ist auch seinen eigenen Weg gegangen. Wir sind miteinander gewachsen und haben heute eine viel offenere Kommunikation als früher. Ich habe mittlerweile nicht mehr das Gefühl, Verantwortung zu übergeben. Jahrzehntelang war es ein Verbot für mich, mich mit dem Trauma zu zeigen, niemanden hinter die Fassade gucken zu lassen und so zu tun, als sei alles in Ordnung. Es war ein großer Schritt, das aufzubrechen.

Sexualität heute

Semikolon: Passiert es heute noch, dass du beim Sex getriggert wirst? 

Lisa: Mittlerweile zum Glück nicht mehr. Ich würde aber nicht ausschließen, dass es noch passieren kann. Letztes Jahr gab es eine Situation beim Sex, in der ich zwar keine Flashback-Bilder hatte, aber das Gefühl, das gerade etwas gar nicht stimmt und ich habe Herzrasen bekommen, obwohl eigentlich gar nichts passiert ist in dem Moment. Dann brauche ich oft Raum für mich, um mich erstmal alleine zu regulieren.

Ich kann durch die Therapie heute viel besser trennen, was Vergangenheit und Gewalt und was Gegenwart und etwas Schönes mit Zuneigung verbundenes ist. Wenn ich an einem Tag Traumatherapie hatte, dann habe ich an diesem Tag aber auch keinen Sex mehr.

Semikolon: Wie hat sich dein Körpergefühl seitdem verändert?

Lisa: Früher habe ich mich von meinem Körper abgeschnitten gefühlt. Es gab mich und es gab meinen Körper und dazwischen eine große Lücke. Ich konnte es wahrnehmen, wenn mich jemand angefasst hat, aber ich habe mich nicht berührt gefühlt. Ich wollte auch gar nichts fühlen.

Zum Glück habe ich irgendwann Yoga für mich entdeckt. Die Verbindung von Körper, Geist, Seele und Atmung hat sich als riesige Ressource erwiesen, um die Verbindung zu mir wahrzunehmen.

Semikolon: Was brauchst du, um dich im sexuellen Kontakt wohlzufühlen?

Lisa: Ganz viel Sicherheit mit dem Menschen. Ich muss jemanden kennenlernen, wenn ich mich von ihm oder ihr berühren lassen möchte und bin überfordert, wenn mich fremde Menschen anfassen. Es ist auch wichtig, dass ich in meiner Mitte bin. Wenn ich sehr gestresst bin, geht das für mich nicht gut.

Semikolon: Wie fühlt sich Sexualität heute für dich an?

Lisa: Ich habe viel Freiheit dazu gewonnen. Sexualität ist jetzt auch etwas Schönes und ich kann mich beim Sex fallen lassen und ihn genießen. Ich habe so viel mit meinem Körper gehadert und ihn abgelehnt. Ich habe Tage meines Lebens damit verbracht, vor dem Spiegel zu stehen und meine Makel zu betrachten. Heute sehe ich in den Spiegel und habe das Gefühl, einen anderen Menschen zu sehen. Meine Figur hat sich in den letzten Jahren wenig verändert. Aber ich habe ein viel größeres Selbstbewusstsein. Nach meinem zweiten Klinikaufenthalt habe ich mir zum ersten Mal Dessous gekauft, weil ich dachte: Das kann ich jetzt tragen!

Feminin auszusehen fühlte sich lange Bedrohlich an. Mittlerweile erlebe ich es als kraftvoll und es macht mir Spaß. Insgesamt würde ich sagen: Mein Sexleben gehört jetzt wieder mir, nicht mehr meinen Ängsten.

Semikolon: Was würdest du anderen Betroffenen und ihren Partner:innen raten?

Lisa: Sich Unterstützung bei diesem Thema zu suchen, war für mich wahnsinnig hilfreich. Auch wenn man keine sexualisierte Gewalt erlebt hat, kann es gut sein, sich therapeutische Unterstützung oder Sozialberatung bei dem Thema Sexualität zu suchen, falls es Probleme gibt.

Wenn du mehr über das Thema PTBS und sexualisierte Gewalt wissen willst, klicke hier

Semikolon - Nachgefragt

Semikolon: Denkst du, wir sollten gesellschaftlich mehr über psychische Erkrankungen sprechen? Wenn ja, warum?

Lisa: Ja! Das ist auch der Grund, warum ich mich öffentlich zeige. Es ist noch immer ein riesiges Tabu, über das eigene mentale Befinden zu sprechen. Wenn man es aber einmal geschafft hat und ein Umfeld hat, was einen in schlechten Momenten tragen kann, hilft das sehr.

Semikolon: Was kann jede:r Einzelne tun, um einen Beitrag zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen zu leisten?

Lisa: Zuhören und offen bleiben, wenn jemand bereit ist, darüber zu sprechen.

Lisa empfiehlt als weitere Lektüre:

Gianna Bacio: Love your sex

Jessica Graham: Good sex

 

Wenn du selbst von sexualisierter Gewalt betroffen bist, oder dir Sorgen um jemanden machst, gibt es Hilfsangebote, an die du dich kostenfrei und anonym wenden kannst:

Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 08000 116 016

Dieser Beitrag wurde von einer ärztlichen Psychotherapeutin redigiert. 

Maja

Maja

“Psychische Erkrankungen begegnen uns häufiger als wir denken. Wir müssen hinsehen und darüber reden.”