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Für und Wider: Diagnose-Videos auf Social Media

vergesslich + schusselig = ADHS?

Über 3 Millionen Beiträge gibt es auf TikTok zu dem Hashtag “adhd”. Viele der darunter geposteten Videos sollen dabei helfen, eigene Betroffenheit zu erkennen. Viele Psychologen warnen vor den Videos - dabei gab es Selbstdiagnosen im Internet schon lange vor TikTok. Was ist dran an der Kritik am neuen Dr. Google? Ein Für und Wider.

Inhalt

Selbstdiagnose-Videos auf Social Media

Werden dir deine Hobbys schnell langweilig?

Vergisst du ständig, wo du deinen Schlüssel hingelegt hast?

Kommst du oft zu spät?

Kaufst du im Supermarkt gerne mal unnötige Sachen ein?

Bist du schnell abgelenkt?

Wenn du die meisten Fragen mit “ja” beantwortet hast, dann ist das vermutlich ein Zeichen dafür, dass du ADHS hast.

Das zumindest suggerieren zahlreiche Videos auf Instagram und TikTok. Die Selbstdiagnose-Videos gehen derzeit viral, alleine unter dem Hashtag “adhd” wurden mehr als 3,1 Millionen Videos gepostet. Selbstdiagnose-Videos gibt es nicht nur für ADHS, sondern auch für Depressionen, Anorexie, Borderline. Wie viele andere Videos orientieren auch sie sich an Trends: es gibt zum Beispiel die Videos, in denen man für jede mit “ja” beantwortete Frage einen Finger herunternimmt (wenn du mehr als drei Finger heruntergenommen hast, hast du vermutlich ADHS!) oder welche, bei denen dir einzelne Fragen gestellt werden. Wie du reagierst, wenn dich jemand fragt: „Wie putzt du dir die Zähne, mach mal nach!“, soll ebenfalls der Selbstdiagnose dienen (wenn du nur den Finger vor dem Mund bewegst: kein ADHS, wenn du den Kopf mitbewegst: ADHS).

Insbesondere TikTok fungiert als Dr. Google der Generation Z. Knapp ein Viertel der 16- bis 19-Jährigen gaben einer Bitkom-Studie aus dem Jahr 2023 zufolge an, bei psychischen Problemen auf TikTok nach Rat zu suchen. Dabei ist die Logik der Selbstdiagnose-Videos, so simpel sie ist, eigentlich kein neues Phänomen. Vor TikTok und Instagram-Reels hat man das Gleiche in zahlreichen Online-Fragebögen gefunden. Eine Google-Suchanfrage, und ausgespuckt bekommt man: “Bin ich depressiv? Mach den Selbsttest!”, Borderline: Test – Gewinne in 3 Minuten mehr Klarheit!”, oder “Essstörungstest: Haben Sie Bulimie oder Magersucht?”.

Anders als diese Tests, die man aktiv ergoogeln muss, können einem die millionenfach angeklickten TikToks und Reels einfach so in den Feed gespült werden. Sie tauchen auch dann auf, wenn man nicht aktiv danach gesucht hat. Sie tauchen auf, ohne, dass da schon einmal eine eigene, leise Vermutung war, die einen dazu angeregt hat, so etwas wie “Depression erkennen”, oder “Habe ich ADHS?” in die Suchleiste getippt zu haben. In unzähligen Interviews und Artikeln warnen Psychologen, Psychiater und Forscher vor den Videos.

Sind sie wirklich so schlimm, oder sogar schädigend?

Pro: Selbstdiagnose-Videos sind verharmlosend und führen dazu, dass sich Menschen für krank halten.

Viele Menschen würden „ja“ sagen, wenn sie gefragt werden, ob sie ab und zu etwas vergessen, schusselig sind, Dinge verlegen, ihren Tee vergessen, Dinge fallen lassen, mehr Süßigkeiten kaufen, als sie eigentlich vorhatten. Das bedeutet aber nicht, wie es viele Selbstdiagnose-Videos erscheinen lassen, die mit genau diesen Fragen spielen, dass diese Personen, die ab und zu ihren Tee kalt werden lassen, schusselig sind oder ihren Schlüssel verlegen, dass sie ADHS haben. Das Leid, das für viele Betroffene durch die Erkrankung bzw. Neurodiversität entsteht, wird damit verharmlost. ADHS bedeutet mehr, als ab und zu etwas tollpatschig zu sein oder Impulseinkäufe vor dem Süßigkeiten-Regal. Diese Darstellung stigmatisiert Betroffene erst recht und malt ein klischeereiches Bild von Menschen mit psychischer- oder neurobiologischer Erkrankung. Eine ADHS-Diagnose ist in den meisten Fällen sehr langwierig, erforderlich ist dafür die Erfassung der ADHS-spezifischen diagnostischen Kriterien über speziell dafür entwickelte Fragebögen, die Erfassung spezifischer Symptome im Kindesalter, oft werden dafür zudem Fremdauskünfte, zum Beispiel von den Eltern, eingeholt. Betroffene zahlen dafür im Schnitt zwischen 200 und 300 Euro, die nicht immer von der Kasse übernommen werden. Auch, wenn bei den Trends auch viele Betroffene mitmachen, heißt das noch nicht, dass sie Experten für ein ganzes Krankheitsbild sind – denn die Symptome können sich individuell voneinander unterscheiden. Die meisten, sehr verkürzten, Videos berufen sich auf eigene Erfahrungen und haben fachlich meistens überhaupt nichts mit medizinischen Diagnostikvorgängen zu tun. Teilweise werden so Fehlinformationen verbreitet und Symptome benannt, die im offiziellen ICD-11, der internationalen statistischen Klassifikation von Krankheiten, gar nicht auftauchen. Das führt zu Verwirrung und verwässert das eigentlich Krankheitsbild. Zahlreiche Experten warnen deshalb mittlerweile vor den Videos. Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Katrin Scholta sagt gegenüber dem WDR beispielsweise, sie sehe durch die Häufung der Selbstdiagnose-Videos die Gefahr der “sozialen Ansteckung”.  Je häufiger man betreffende Videos ausgespielt bekäme und sich mit deren Inhalten auseinandersetze, desto wahrscheinlicher sei es auch, Anzeichen für eine psychische Erkrankung bei sich selbst zu sehen. Ganz normale Verhaltensweisen und Dinge, die im Alltag eben passieren – jede:r ist mal abgelenkt, unkonzentriert oder schlecht drauf – werden so zu Symptomen einer Krankheit gemacht. So fördern die Selbstdiagnose-Videos im schlimmsten Fall eine Hypochrondie für psychische Erkrankungen.

Contra: Selbstdiagnose-Videos machen Menschen niedrigschwellig auf psychische Erkrankungen aufmerksam.

Mal kurz durchatmen, den Rücken entspannen. Locker machen und überlegen, wann man das letzte Mal selbst Symptome gegoogelt hat, obwohl man genau weiß, dass einem das nur Stress bereitet, man sich danach kränker fühlt als davor und außerdem noch zuletzt einer Freundin das Versprechen abgenommen hat, eine neue Diagnose auf keinen Fall, unter keinen Umständen, im Internet zu suchen.

Erst dann können wir darüber nachdenken, ob es wirklich so schlimm ist, dass Diagnose-Videos auf TikTok und Instagram gepostet werden. Oft haben sie eine humoristische Komponente, sind von vorneherein gar nicht so ernst gemeint und bieten einen niedrigschwelligen Zugang zu dem Themenkomplex mentale Gesundheit. Über Social Media werden mit den Videos auch Menschen erreicht, die sich nicht gezielt damit auseinandersetzen, oder nur wenig Berührungspunkte damit haben; im besten Fall machen die Videos psychische Erkrankungen sichtbarer. Die vermehrte Aufmerksamkeit, die das Thema mentale Gesundheit derzeit erfährt, führt auch dazu, dass Menschen Dinge an sich selbst wiedererkennen, für die sie sich sonst schämen, die sie unsicher machen, die einfach nur komisch sind. Erfahrungsberichte anderer Betroffener können helfen, Klarheit zu erlangen, vielleicht auch den nötigen Antrieb geben, einen Arzttermin zu vereinbaren oder nach einem Therapieplatz zu suchen. Eine Diagnose kann für Betroffene erleichternd sein und zu mehr Selbstakzeptanz führen. Verhaltens- oder Gedankenmuster, die sie davor nicht einordnen konnten, machen mit der Diagnose und dem Wissen um ein Krankheitsbild auf einmal Sinn. So berichten es zum Beispiel Nico und Dani hier auf dem Blog.

Social Media ist dafür schon lange ein Vorreiter dafür, offen über schambesetze Themen zu sprechen; online finden sich Communitys von Gleichgesinnten zusammen, die digitale Zugehörigkeit erleben. Je mehr Menschen im Internet über psychische Erkrankungen sprechen, desto leichter könnte es werden, auch im persönlichen Umfeld offen mit möglicher eigener Betroffenheit umzugehen.

Dieser Beitrag wurde von einer ärztlichen Psychotherapeutin redigiert. 

Maja

Maja

“Psychische Erkrankungen begegnen uns häufiger als wir denken. Wir müssen hinsehen und darüber reden.”