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Ärztliche Psychotherapeutin Elisabeth Kohler über Psychoanalyse

Heißt Psychoanalyse wirklich auf der Couch liegen und über Kindheit sprechen?

Elisabeth Kohler ist ärztliche Psychotherapeutin mit psychoanalytischem Schwerpunkt. Im Exptertinnengespräch mit Semikolon erzählt sie, welche Theorien der Psychoanalyse zugrunde liegen, was eigentlich der Unterschied zwischen Freud und Adler ist und was das Verfahren wirksam macht.

Inhalt

Schwerpunkte der Psychoanalyse

Semikolon: Was bedeutet eigentlich Psychoanalyse?

Elisabeth Kohler: Damit Verletzungen der Seele heilen können, muß man verstehen, was im Inneren eines Menschen geschieht. Die Psychoanalyse sucht dieses Verständnis und wendet es therapeutisch an. Man kann es mit einer Orthopädin vergleichen: Sie studiert erst das Röntgenbild, bevor sie einen Knochenbruch behandelt. Die Psychoanalyse ist eine der großen Therapieformen, die von den Krankenkassen übernommen werden, weil man zeigen konnte, dass sie wissenschaftlich fundiert und wirksam sind. Die Psychoanalyse hat einzelne Schwerpunkte, die charakteristisch für sie sind.

Der erste und wichtigste Schwerpunkt ist die Bedeutung des Unbewussten. Die Erkenntnis Freuds, wie wesentlich das Unbewusste für unser Handeln, Denken und Fühlen ist, finde ich bahnbrechend. Dabei geht es darum, dass das, was wir normalerweise als Denken bzw. Bewusstsein ansehen, nur die Spitze des Eisbergs ist. Darunter formen sich Motivationen, von denen wir nichts ahnen, die aber sehr wohl unser Handeln und Denken und Fühlen prägen. Das Unbewusste ist, wie das Bild des Eisbergs schon nahelegt, ein sehr weites Feld. Sich dem zu nähern braucht Zeit und Raum. Dem will die Analyse im Setting der Therapie auch Rechnung tragen.

Der zweite, vielleicht noch wichtigere Aspekt in der Psychoanalyse ist die Begegnung mit sich selbst, mit dem Therapeuten oder der Therapeutin und natürlich mit Bezugspersonen aus dem Alltag, aber auch aus der Vergangenheit. Daraus leiten sich auch wesentliche Ansätze für die Therapie ab: Zu erspüren, wo Stärken in der Begegnung sind. Wo leuchten die Ressourcen auf? Wo gibt es Schwierigkeiten in Begegnungen und Beziehungen?

Der dritte Aspekt neben dem Unbewussten und der Beziehung sind die Konflikte, die in der Therapie angeschaut und wenn möglich flexibilisiert werden sollen. Wir alle bringen bestimmte Strebungen mit, die sich gewissermaßen widersprechen, wenn wir auf die Welt kommen. Wir alle brauchen Nähe und Verbundenheit, aber wir wollen auch über uns hinauswachsen und frei sein. Das ist schon im Uterus so: Wenn das Kind wächst, will es größer werden und sich abstoßen. Und zugleich braucht es unbedingt die einmalige Verbindung in diesem Raum des Mutterleibs mit der Mutter. Ein anderes Bedürfnis ist, dass wir neugierig sind und Neues erleben wollen. Aber wir wollen auch Altes behalten und auf Vertrautes zurückgreifen, auf Dauer setzen und eben nicht auf die Veränderungen. Beide Strebungen gibt es in jedem Menschen. Oft werden sie dann zum Konflikt, wenn wir durch unsere Lebensgeschichte an einem der beiden Pole gewissermaßen festhalten, weil es zum Überleben geholfen hat, den einen Pol besonders zu betonen, sei es der Nähe-Pol oder der Autonomie-Pol zum Beispiel. Das führt aber dazu, dass die Spannung zwischen diesen Polen besonders groß ist und in aktuellen Beziehungen und im Alltag hinderlich werden kann.

In der Analyse geht es darum, zu begreifen, dass man in diesen Spannungen steht, wie es kommt, dass man einen Pol intensiver gelebt hat und die Angst vor einem anderen Pol stärker ist und einen hindert, flexibel hin und her pendeln zu können, wo es vielleicht gerade notwendig ist, sich mal auf die andere Seite hinüber zu wagen.

Begründer der Psychoanalyse

Semikolon: Was hat Sigmund Freud mit der Psychoanalyse zu tun?

Elisabeth Kohler: Sigmund Freud, dessen Namen man natürlich mit der Psychoanalyse in Verbindung bringt, gilt als ihr Begründer. Seine erste große Publikation, „Die Traumdeutung“ ist auf 1900 in Wien datiert. Darin hat er auch schon ganz wesentliche Dinge der Theorie begründet und die Traumdeutung zeitlebens für sein größtes Werk gehalten. Es gibt neben Freud aber auch noch andere Gründerväter der Psychoanalyse, die ursprünglich mal zusammengearbeitet haben. Alfred Adler und C.G. Jung sind die zwei bekanntesten. Auf die Trennung ihrer Arbeit hin hat sich die Analyse wie ein Baum weiterentwickelt mit vielen Ästen und Zweigen. Es gibt deshalb gar nicht die Psychoanalyse, sondern viele verschiedene Ansätze.

Semikolon: Was unterscheidet die Theorie von Freud und Alfred Adler voneinander?

Elisabeth Kohler: Sigmund Freud hat vor allem das Individuum gesehen. Adler sah zwar auch das Individuum in seiner Individualpsychologie, aber immer eingebettet in ein Gemeinschaftsleben. Er sagt, wir kommen mit einem Gemeinschaftsgefühl auf die Welt. Das ist durch die Bindungsforschung auch unterstützt worden. Später sagte er auch, dass wir Menschen immer in Bewegung sein wollen innerlich vom Minus zum Plus. Wir kommen klein auf die Welt und fühlen uns unterlegen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das führt dazu, dass wir uns als kleine Menschen aufrichten und groß werden wollen. Das ist dieser Drang: immer mehr nach oben, um das vielleicht in allen innewohnende Minderwertigkeitsgefühl zu überwinden. Dieses Wort hat übrigens Adler erfunden.  Leben heißt, sich bewegen. Das war ein ganz wichtiger Gedanke von Adler, der über die Sicht der Triebe als Motivatoren bei Freud hinausgeht.

Die Wirkung von Psychoanalyse

Semikolon: Nach welchem Ansatz sind Sie ausgebildet worden?

Elisabeth Kohler: In meiner Ausbildung galt es, über den Horizont des eigenen Gründervaters hinauszublicken. Auch wenn mein Institut ein Alfred Adler Institut war, nannte es sich auch Gesellschaft für freie Psychoanalyse, weil Adler das als Terminus geprägt hatte. Dieses Freie war in meinem Institut sehr wichtig, und ich habe auch andere analytische Ansätze kennengelernt. Es ist mir ein großes Anliegen, nicht nur mit Scheuklappen das Eigene zu vertreten, sondern auch noch andere Therapieformen zu kennen. Ich habe zum Beispiel sehr von der Hypnotherapie profitiert. Die systemischen Ansätze finde ich ganz wichtig, die der Verhaltenstherapie sowieso. Ein Schwerpunkt meiner Arbeit ist die Traumatherapie. Die wichtigsten Impulse für meine Haltung und die tägliche Arbeit habe ich durch die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie bekommen, die von Luise Reddemann entwickelt wurde.

Semikolon: Gibt es bestimmte Modelle, mit denen in der Psychoanalyse gearbeitet wird?

Elisabeth Kohler: Die Entwicklungspsychologie ist eine wichtige Basis. Dabei geht es darum, dass sich ein Kind in gewissen Phasen entwickelt und die jeweils ersten Erfahrungen immer die einprägsamsten sind. Die moderne neuropsychologische und neurophysiologische Forschung  hat gezeigt, dass wir sehr empfänglich sind, wenn wir etwas ganz frisch erleben. Deshalb sind die ersten Lebensjahre entscheidend für die Prägung der Persönlichkeit.

In der Therapie finde ich es aber bei biografischer Arbeit wichtig, dass sie eine klare Ausrichtung hat und die Biografie nicht um ihrer selbst willen aufgearbeitet wird, sondern für ein besseres Leben im Hier und Heute bzw. im Morgen.

Eigentlich passt aber das Wort der Modelle gar nicht so für die Psychoanalyse, weil man im Grunde möglichst wenig Vorgefasstes an den Patienten heranträgt, sondern ganz offen ist für das, was sich in der Stunde ereignet und an Bedeutung, Sinn und Zusammenhängen aufleuchtet. Das ist ein co-kreativer Prozess, wie wir sagen.

Semikolon: Spielt die Arbeit mit der eigenen Vergangenheit in der Psychoanalyse eine große Rolle?

Elisabeth Kohler: Ich vertrete einen Ressourcen-orientierten und progressiven Ansatz. Das bedeutet, dass ich den Blick viel auf das Gelingende und die Selbstheilungskräfte richte. Es gibt daneben aber auch den regressiven Ansatz. Da geht es darum, in ein bestimmtes Lebensalter zurückzugehen, um alte Gefühle nochmals zu erleben. Ich glaube, dass man dazwischen eher pendeln sollte: Mitfühlen mit dem Ich, was man war, aber auch schon während der Sitzung klar ins Hier und Heute zurückzukommen, um die Erwachsene von heute zu spüren und zu leben.

Semikolon: Was macht Psychoanalyse wirksam?

Elisabeth Kohler: Ich glaube, dass sie bei dem ansetzt, woran es vielen Menschen im Laufe ihrer Biografie gemangelt hat: Den aufmerksamen, unvoreingenommenen Blick eines wohlwollenden Gegenübers zu erleben und in Gegenwart eines andern bei sich sein zu können. Zu wagen, sich überhaupt erst mal kennenzulernen. Wir kommen auf die Welt und wissen nicht, wer wir sind, sondern erfahren das durch unsere Gegenüber und bekommen durch andere allmählich ein Bild davon, wer wir sind. Je nachdem, wie sich das geprägt hat, kann das sehr negativ sein oder hilfreich.

Vertrauen in sich und das Leben zu spüren, überhaupt entdecken zu wollen, wer man ist, das ist vielleicht das Wirksamste in der Psychoanalyse.

Der zweite Teil des Interviews, in dem Elisabeth Kohler davon erzählt, wie Psychoanalyse in der Praxis aussieht, folgt in zwei Wochen. 

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Dieser Beitrag wurde von einer ärztlichen Psychotherapeutin redigiert. 

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Maja

“Psychische Erkrankungen begegnen uns häufiger als wir denken. Wir müssen hinsehen und darüber reden.”