Natalie Irber schreibt auf Instagram Sätze wie: “Es ist auch okay, mal nicht okay zu sein” und erreicht mit ihren Ermutigungen über 50.000 Menschen. Natalie teilt Erfahrungen ihrer psychischen Erkrankung: Sie leidet unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Im Juni 2021 teilt sie ihre Geschichte öffentlich. 2008, mit siebzehn Jahren, lernte Natalie ihren damaligen Partner kennen, in den sie so verliebt wie nie zuvor gewesen sei. Doch in der Beziehung kam es zu emotionalem Missbrauch, ihr Partner drohte ihr mehrfach mit Suizid. “Die Angst, er würde sterben, hat mich wie Kleber an ihn gepresst”, schreibt Natalie.
Im Sommer 2016 fand Natalie ihren Freund tot in der gemeinsamen Wohnung. Er hatte Suizid begangen. Sie schreibt, sie sei “in Millionen Teile zerbrochen zwischen Trauer, Wut und Erleichterung.”
Im Gespräch erzählt Natalie, wie es ihr gelungen ist, einen Umgang mit ihrem Trauma zu finden und wie sie heute auf ihre Vergangenheit blickt.
Öffentliches Sprechen über PTBS
Semikolon: Auf Instagram sprichst du offen über deine PTBS und teilst auch die Geschichte dahinter: Der Suizid deines Partners 2016. Was hat dich dazu bewegt?
Natalie Irber: Ich wollte nicht einfach rausgehen und sagen: ‚Hey, das hilft gegen eine PTBS! Du kannst wieder heilen!’ Für mich war es wichtig, dass ein Vertrauen da ist, indem ich mich selbst offenbare und meine Geschichte veröffentliche. Dann kann man sehen, es war ja wirklich scheiße bei mir, als 2016 mein Leben bergab gegangen ist, nachdem sich mein Freund umgebracht hat. Aber ich habe es auch da raus geschafft. Das gibt den Leuten Mut.
Eine Posttraumatische Belastungsstörung entsteht als verzögerte Reaktion eines belastenden Ereignisses. Häufige Symptome sind das wiederholte Erleben des Traumas in Flashbacks, die vor dem Hintergrund des Gefühls von emotionaler Betäubung auftreten. Angst, Depression und Suizidgedanken sind ebenfalls häufig Teil einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Semikolon: Wie hast du die Zeit nach dem Suizid deines Partners erlebt?
Natalie Irber: Das ist eine krasse Geschichte, denn ich war die drei, vier Tage danach alleine in der Wohnung. Dort hat er sich das Leben genommen. Ich habe ihn aufgefunden, die Sanitäter gerufen und dann kam die Kripo und hat ihn weggebracht. Ich habe noch nach einem Kriseninterventionsdienst gefragt und die haben zu mir gesagt, ich solle das googeln. Aber das kannst du unter Schock nicht. Diese drei Tage alleine in der Wohnung waren traumatisierend und haben viel in mir kaputtgemacht. Wenn du so was erlebt, dann brichst du nicht zusammen wie in Filmen, sondern bist einfach starr und denkst gar nichts. Ich habe mir Bier geholt und Lasagne gegessen und meinen Partner immer wieder vor mir gesehen, obwohl er nicht mehr da sein konnte. Da kommst du auf ganz komische Gedanken. Dann willst du zum Kottbusser Tor fahren, mitten in Berlin und dir bei Junkies Tavor kaufen. Die Idee hatte ich, weil ich das von meinem damaligen Partner so kannte. Ich hätte einfach zum Arzt gehen sollen, aber auf den Gedanken kam ich gar nicht.
Semikolon: Konntest du mit der Zeit unterschiedliche Emotionen, auch Wut zulassen?
Natalie Irber: Die Wut habe ich jahrelang unterdrückt. Unterbewusst habe ich, glaube ich beschlossen: Ich bin lieber traurig. Ich habe ihn aufgefunden und wusste von seinen Suizidversuchen. Das war nicht sein erster, sondern ungefähr sein 35.000. Ich habe mich gefragt, ob ich dafür verantwortlich bin.
Ich versuche immer alles zu rationalisieren und lange dachte ich, ich müsse nicht wütend sein. Aber fucking klar darf man wütend sein! Die Wut hat eine Berechtigung und das musste ich erst mal lernen. Wenn man die dann Wut zulässt, wird sie irgendwann weniger. Mittlerweile sage ich noch: Mein Ex-Freund war nett, aber er war auch ein Arschloch. Ich habe ihn damals geliebt und es war eine anstrengende Zeit, aber sein Verhalten ist nicht zu entschuldigen, egal ob er jetzt tot ist oder nicht.
Semikolon: Gab es weitere Suizidversuche, während du mit ihm zusammen warst?
Natalie Irber: Viele. Ich habe auch noch unzählige Abschiedsbriefe, eine ganze Kiste. Eine Zeit lang war das die Büchse der Pandora. Wenn es mir schlecht ging, habe ich sie geöffnet und danach ging es mir noch schlechter. Alle sagen, ich solle sie irgendwo vergraben. Aber das ist so eine letzte Erinnerung, die ich habe, und das gebe ich nicht her. Das ist ein Teil meiner Geschichte.
Umgang mit Trauer
Semikolon: Konntest du mit deinen Angehörigen darüber sprechen?
Natalie Irber: Das war schwierig, weil die ganze Geschichte schwierig war. Es war keiner bei den Dingen, die in den letzten Jahren passiert waren, dabei. Wie willst du das erklären?
Semikolon: Hast du das Gefühl, es verstehen zu können?
Natalie Irber: Ja, ich verstehe es. Aber Suizid ist kein Ausweg. Es gibt immer einen Weg, mit dem du da rauskommen kannst. Er hätte Therapie machen sollen, aber wenn man das nicht will, ist es schwierig. Mit einer Seite denke ich, dass man das Angehörigen nicht antun darf. Es ist unfair, was du zurücklässt. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, egal wie tief es ist, es ist eben eine verdammte Phase und an der kommt man vorbei. Man hätte ihm anders helfen können. Hundert Prozent. Hätte er gewollt.
Semikolon: Wie bist du mit deinem Trauma umgegangen?
Natalie Irber: Ich habe es erst mal verdrängt und die Spirale ging bergab, mit richtig viel Chaos. Ich hatte Wiedererleben und habe dissoziiert. Ich kam nicht zurecht und habe mich selbst aufgegeben. Mich hat damals jemand gefragt: ‚Hey Natalie, was ist dein Lebenstraum?‘ Und ich angefangen zu heulen, weil mir klar geworden ist: Du hast überhaupt keine Perspektive mehr in deinem Leben, kein Wunder, dass du unglücklich bist. Also musst du irgendwie einen Sinn für dich fassen, etwas, was dir ein bisschen die Energie gibt. Wenn dich alles nur aussagt, dann stehst du gefühlt an einer Brücke und fragst dich: Okay, aber nur für die Family noch dableiben? Das ist auch nicht das Wahre. Langsam kam dann der Gedanke, eine Traumatherapie mitzumachen.
Bei einer Dissoziation verliert die betroffene Person den Zugang zur Welt um sie herum. Sie fühlt sich weggetreten, wie in Watte gepackt oder losgelöst von sich selbst. Was um die Person herum geschieht, nimmt sie nur noch kaum oder gar nicht mehr wahr.
Das wiederholte Erleben des traumatischen Erlebnisses. Flashbacks sind ein häufiges Symptom einer PTBS. Die Betroffenen fühlen sich innerlich in die Situation zurückversetzt und sehen, hören oder fühlen das vergangene Ereignis in hoher Intensität.
Der Weg zur Therapie
Semikolon: Wie lange hat es gedauert, bis du eine Traumatherapie gemacht hast?
Natalie Irber: Fünf Jahre. Eigentlich ging es mir aber schon länger schlecht. Ich habe das nur nicht richtig gewusst, als mein Partner noch am Leben war. Wir waren acht Jahre lang zusammen und ich habe alles mitgemacht, weil er toxisch und vermutlich auch psychisch erkrankt war. Es war eine sehr, sehr, sehr schwierige Zeit. Bis ich etwas ändern wollte, musste es erst so richtig, richtig tief sein. Ich habe die Zeit vom Fall gebraucht. Und dann hat es mir gereicht.
Semikolon: Was für eine Trauma-Therapie hast du gemacht?
Natalie Irber: Eine Konfrontationstherapie mit EMDR in einer Klinik. Es ist hart, aber es kann helfen und das geht nur, wenn du wirklich da rein guckst, wo es fucking wehtut. Und dann musst du es so oft angucken, bis es eben nicht mehr weh tut. Dafür braucht man die Ressourcen, genau dieses bisschen, für das man brennt. Und dann kann man sich den Scheiß antun, die drei Monate. Aber es wirkt.
Die “Eye Movement Desensitization and Reprocessing”-ist eine psychotherapeutische Methode, die häufig in der Traumatherapie eingesetzt wird. Während der Therapie konzentriert sich der:der Betroffene auf das traumatische Ereignis. Gleichzeitig bewegt er:sie unter Anleitung die Augen schnell hin und her. Dieses Verfahren wirkt auf die neuronalen Bahnen im Gehirn. EMDR ermöglicht es, traumatische Erfahrungen, die oft in unvollständigen Erinnerungsnetzwerken abgespeichert sind, neu einzuordnen und zu verarbeiten.
Semikolon: Was war diese Ressource für dich?
Natalie Irber: Das Schreiben, auch auf Instagram. Das ist mein Leben, mein Elixier, von dem ich sauge. Ich habe mich jahrelang sehr verschlossen. Erst jetzt bin ich wieder ehrlich. Aber meine Familie stand immer hinter mir.
Semikolon: Hat sich durch die Therapie dein Blick auf die Zeit damals verändert?
Natalie Irber: Noch vor eineinhalb Jahren, vor der Traumatherapie habe ich jeden Tag Tausende Male daran gedacht, was passiert ist. Immer wieder. Jetzt denke ich vielleicht einmal in der Woche daran. Die Tatsache, wie es gelaufen ist, ist immer noch da. Aber man nimmt irgendwann Abstand. Ich stecke jetzt so mitten drin in meinem Leben, das meine Vergangenheit mir nichts mehr antut. Aber ich merke immer wieder, dass ich sie habe, weil mich noch viel triggert. Zum Beispiel bin ich paranoid und muss immer gucken, was vor und hinter mir ist, oder habe keinen Bock mehr auf Clubs. Aber insgesamt ist das tagesverfassungsabhängig. Es gibt Tage, da bin ich empfindlicher und es gibt Tage, da kommt nichts an mich ran.
Umgang mit Krisen
Semikolon: Was würdest du Menschen raten, deren Partner Suizidgedanken äußern?
Natalie Irber: Man muss ernst reagieren, zuhören und fragen, warum. Verstehen wollen, warum derjenige aufgeben möchte.
Bei meinem ehemaligen Partner war es so, dass egal was ich gesagt habe, es falsch und ich schuld war. Ich bin gar nicht mehr an ihn rangekommen, das war wie eine Mauer. Er hatte nur noch seine subjektive, verschobene Wahrnehmung. Wenn man depressiv ist, dann sieht man nur noch schwarz, nichts anderes mehr. Da ist es wichtig, dass von außen professionell geholfen wird. Man kann etwas machen! Therapie ist etwas soo Sinnvolles.
Ich hatte selbst mal Suizidgedanken und ich weiß, dass es wie eine Sucht ist. Ich hatte nur noch das ist im Kopf und das ging nicht weg, bis ich es probiert hatte. Da war mir dann klar, okay, vielleicht will ich doch nicht sterben. Mittlerweile weiß ich: Wenn so was kommt, dann kann das auch wieder weggehen. Man darf Suizidgedanken haben, man darf nur nicht springen.
Semikolon: Wie gehst du heute mit Krisenmomenten um?
Natalie Irber: Ich versuch es meistens mit dieser Runter-Zählen-Taktik: Zehn, neun, acht… Die Übung habe ich immer dabei. Wenn ich mich nicht ablenken kann, dann mach ich Matheaufgaben. Mein Kopf kann sich nicht gleichzeitig Sorgen machen und Rechnen. Man muss sich selbst ein bisschen dazu erziehen, aber mit ein bisschen Disziplin (und ich bin echt nicht der disziplinierteste Mensch) geht das schon.
Wenn ich eine tiefe Krise habe, versuche ich das erst mal auszuatmen und und einen Tag lang zu reflektieren. Ich schreibe auf, was das Problem ist. Dann schaue ich es nach ein paar Tagen wieder an und frage mich: Ist das Problem immer noch so groß oder nicht? Und ansonsten: entgegengesetztes Handeln. Das wirkt Wunder. Wenn du Angst vor etwas hast, dann mach es.
Alltag mit PTBS
Semikolon: Hat deine Vergangenheit einen Einfluss auf deine Beziehungsgestaltung heute?
Natalie Irber: Als ich meinen Freund vor einem Jahr kennengelernt habe, hatte vor allem möglichen Angst. Ich hatte Angst, dass es zu nah ist, dass es zu weit weg ist und dann sogar, dass ich es richtig mache, weil ich in der Vergangenheit noch nie eine gesunde Beziehung geführt hatte. Ich hatte zum Beispiel totale Angst, als mein Freund meine Eltern kennenlernen wollte. Ich bin da erst mal total durchgedreht und habe ich ihn davor angerufen und gefragt, ob er auch wirklich kommt. Ich war so paranoid, weil mein damaliger Partner meine Eltern nie kennenlernen wollte. Mein Freund war dann aber sogar total pünktlich. Von Monat zu Monat habe ich ihm mehr erzählt, so weit wie die Komfortzone ist. Man muss ja nicht jedes Mal eine Exposition machen.
Aber ich musste hingucken und mich fragen: Woher kommt denn eigentlich diese scheiß verdammte Angst? Dann habe ich gedacht, dass es vermutlich eine Angst ist, die aus der Vergangenheit kommt und gar nicht berechtigt ist. Und das macht man dann mit jedem einzelnen komischen Gedanken. Das ist ein Entwicklungsprozess, aber ich rutsche auch immer wieder in alte Muster. Das dauert.
Semikolon: Was macht dir auf deinem Weg Mut?
Natalie Irber: Zu tun, was einen glücklich macht. Du musst herausfinden, was es ist, aber jedem macht irgendetwas glücklich. Und wenn man das nicht hat oder weiß, dann sollte man sich Hilfe holen.