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Christine Koschmieders Roman „Dry”

Kann es sein, dass du Alkoholiker bist, Papa?

In ihrem autofiktionalen Roman „Dry” beleuchtet Christine Koschmieder die Stationen ihres Lebens. Dabei untersucht sie vor allem eins: Was eigentlich mit dem Trinken war. Welche Rolle Alkohol in ihrem Leben spielt, wie sie sich in einer Suchtklinik aus der Abhängigkeit herauskämpft und was ihre alkoholabhängigen Eltern mit ihrem eigenen Konsum zu tun haben.

Inhalt

Der Roman „Dry” - Rezension

Schonungslos. So begibt sich Christine Koschmieder in ihrem autofiktionalen Roman Dry in die Vergangenheit. In Rückblenden begibt sie sich in ihre frühe Kindheit, in ihr Leben als Studentin. Als Ehefrau eines Sterbenden, als Mutter dreier Kinder. Sie seziert ihr Leben – und legt dabei offen, wie ihr Alkohol als Lösungsstrategie familiär vererbt wurde und was sie dahin gebracht hat, in einer Entzugsklinik über ihren Alkoholkonsum zu reflektieren.

Dry ist ein Roman, schreibt die 1972 in Heidelberg geborene Autorin im Vorwort. Kein Sachbuch zum Thema Alkoholismus, keine Memoiren. Die Figuren, die neben ihr in dem Roman auftauchen, sind fiktiv – haben aber reale Vorbilder. Die Geschichte einer Frau, die es geschafft hat. So mag man denken. Sie hat drei Kinder großgezogen, eine Karriere im Kulturbetrieb gemacht und verarbeitet dabei auch noch irgendwie den Tod ihres Mannes. Mit dabei ist aber der Alkohol, immer unterschwellig. Mit Ende vierzig begibt sie sich deshalb in eine Suchtklinik. Diese Station bildet den Rahmen ihrer Geschichte, von dem aus sie zurückgreift in ihr Leben, Geschehnisse herauspickt, in ihr damaliges Selbst zurückgeht und Verknüpfungen herstellt, zwischen Beziehungen, Schicksalsschlägen, dem Funktionieren und ihrem Alkoholkonsum. Auf ihrer Lebenslinie, wie sie es nennt. Ausgehend von ihrem Aufenthalt in der Klinik, Erzählungen von Gruppentherapie, von Modellen über das innere Kind, springt sie in der Zeit zurück zu den Punkten, die auf ihrer Lebenslinie herausstechen, wie sie es zu Beginn des Romans beschreibt. Sie geht radikal vor. Radikal im Exerzieren ihrer Geschichte, radikal darin, auch das hervorzuholen, was schambehaftet ist und radikal ehrlich.

Was ist hochfunktionaler Alkoholismus?

Was ist hochfunktionaler Alkoholismus?

Alkoholismus bleibt oft eine unerkannte Krankheit. Auch Koschmieder beschreibt ihren unauffälligen, scheinbar ganz normalen Alltag in Beruf und Familie, über Jahre hinweg. Alkoholismus, auch Alkoholabhängigkeit genannt, entwickelt sich meist über eine lange Zeit.

Laut ICD-10 fällt Alkoholismus unter das Abhängigkeitssyndrom, genauer unter die psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope, also bewusstseinsverändernden, Substanzen.

Anzeichen für Alkoholismus sind:

  • Unbezwingbares Verlangen, Alkohol zu trinken
  • Alkoholkonsum schon am Morgen
  • Alkoholkonsum, um gegen Übelkeit oder Zittern in den Händen vorzugehen
  • Nicht mehr aufhören können zu trinken, steigende Alkohol-Toleranz des Körpers
  • Zunehmender Alkoholkonsum, um eine gewünschte Wirkung zu erzielen
  • Planung des Tages danach, wann Alkohol konsumiert werden kann
  • Die Priorität des Gebrauchs der Substanz über sozialen Aktivitäten und Verpflichtungen
  • Trinken trotz des Bewusstseins, dass der Alkoholkonsum bereits zu schädlichen körperlichen, psychischen oder sozialen Folgen geführt hat
  • Bei ausbleibendem Konsum kann es zu körperlichen Entzugserscheinungen wie Unruhe, Angst, Übelkeit, Zittern und depressiven Verstimmungen kommen

Von Alkoholismus gibt es ein bestimmendes, stigmatisierendes Bild. In „Dry” heißt es: „Der Alkoholiker, das ist doch bitte der, der vom Stuhl kippt, torkelt, das Gewicht nicht mehr halten kann, Gläser umschmeißt, ausfällig wird, mit rot geädertem Gesicht auf der Parkbank rumhängt, sein Leben nicht in den Griff kriegt. Alkoholiker, das sind diejenigen, die sichtbar ein Problem haben.” Sie selbst räumt mit diesem Bild auf. Sie fällt nicht vom Stuhl, sie hängt nicht auf Parkbänken rum, sondern arbeitet und zieht alleine drei Kinder auf. Sie ist gleichzeitig alkoholabhängig und erfüllt die Aufgaben, die sie in ihrem Alltag bewältigen muss.

Der Begriff des „Hochfunktionalen Alkoholikers” beschreibt Menschen, die über Jahre hinweg ihre Alkoholsucht verbergen und es schaffen, die Anforderungen des täglichen Lebens zu meistern. Das National Institutes of Health gibt an, den „typischen” Alkoholiker gäbe es nicht. Das stereotypische Bild führt dabei allerdings zu fehlender Aufklärung. Dass ihr Problem mit dem Alkohol nicht sichtbar sei, sage weniger über ihr „vermeintlich nicht vorhandenes Suchtproblem aus als mehr über das fehlende Wissen über Sucht und ihre Erscheinungsformen”, schreibt Koschmieder. Ob sichtbar oder nicht, die Sucht hinterlasse Schäden.

 

Schäden, die sich oft erst Jahre später zeigen, die viel mit Ehrlichkeit und Beziehungsgestaltung und Vertrauen und Verlässlichkeit und Bindungsfähigkeit zu tun haben

Aufwachsen als Kind alkoholkranker Eltern

Beziehungen sind eines der bestimmenden Themen in „Dry”. Die Beziehung zu Freund:innen, zu den drei Kindern der Protagonistin und deren Vätern. Zu ihrem an Krebs verstorbenen Mann und ihren Eltern. Das Thema Alkohol ist besonders in diesen Rückblenden, denen in ihre Kindheit, präsent. „Wenn Papa die Decke auf seiner Betthälfte zurückschlagt, damit ich darunterklettern kann, kommt da ein miefiger Schwall hervor. Zigaretten, Rotwein und Schlaf machen Mundgeruch” heißt es.

Sie beschreibt die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter, die Angst vor deren Wut und Impulskontrolle, ihr Schweigen und Leise sein und zieht daraus den Glaubenssatz: „Es ist aber auch wirklich nicht leicht, mich zu lieben”. Beide Eltern sind im Lehrberuf tätig, irgendwann sprechen andere Kinder sie an: „Ich solle doch bitte dafür sorgen, dass mein Vater morgens nüchtern zum Unterricht kommt”. Sie konfrontiert ihn.

Kann es sein, dass du Alkoholiker bist? Ich war auf Abwehr eingestellt. Dass er leugnet. Erklärt. Sauer reagiert. Stattdessen guckt er mich im Spiegel an. Und nickt.

In der Klinik reflektiert sie über diese Zeit und ihr angelerntes Trinkverhalten. Kinder von Alkoholkranken Eltern haben ein stark erhöhtes Risiko, selbst einmal alkoholabhängig zu werden. Knapp ein Drittel werden als Erwachsene selbst suchtkrank. Kinder von Eltern, die alkoholabhängig sind, erleben häufig starke Unsicherheiten, besonders weil Aufmerksamkeit und Zuneigung der Eltern meist vom Trinkverhalten der Eltern abhängig sind.

Laut dem Bundesgesundheitsministerium leben derzeit knapp drei Millionen Kinder und Jugendliche mit alkoholkranken Eltern.

Auch die Beziehung zu den eigenen Kindern thematisiert Koschmieder in ihrem Roman, setzt sich mit deren Wahrnehmung im Umgang mit ihr auseinander und versucht, zu erklären: „Was das Trinken meiner Eltern mit mir als Kind gemacht hat und wie ich mich als Erwachsene dabei erwische, bestimmte Muster meiner Kindheit zu wiederholen.“

Zum Ende des Romans ist es das, was stehen bleibt. Dass es wichtig ist, sich mit dem Thema auseinandersetzen, für sich selbst und das eigene Umfeld. Zu erklären, welche Stationen auf ihrem Lebensweg Einfluss auf ihr Trinkverhalten hatten und vor allem, gegen die Sucht anzugehen. Dafür muss sie die Scheu beiseitelegen, dafür braucht es Konfrontation. Genau das ist der Roman „Dry”.

Christine Koschmieder gibt an, ihr habe nicht nur die Klinik geholfen, sie habe „Verbündete”, wie sie es nennt, gebraucht, um sich mit dem Thema Trinken zu befassen. Sie verweist auf weitere Literatur zum Thema Alkoholismus, darunter sind:

Leslie Jamison: The Recovering

Daniel Schreiber: Nüchtern. Über das Trinken und das Glück.

Janet Woititz: Adult Children of Alcoholics

Wenn Du ein Suchtproblem hast oder dir Sorgen um jemanden machst, kannst du dich an Suchtberatungsstellen wenden. Google dafür „Suchberatung + Ort”.

Außerdem kannst du dich bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtberatung e.V. beraten lassen. Ihre Internetseite findet du hier. 

Anmerkung: Der Roman „Dry” von Chrsitine Koschmieder ist im August im Kanon Verlag erschienen. Das Buch wurde dem Semikolon-Blog als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Dieser Beitrag wurde von einer ärztlichen Psychotherapeutin redigiert. 

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Maja

“Psychische Erkrankungen begegnen uns häufiger als wir denken. Wir müssen hinsehen und darüber reden.”