Der 25. September 2020
Sechzig Meter. So hoch ist die Golden Gate Bridge an dem Punkt, von dem Kevin Hines gesprungen ist, als er sich am 25. September 2000 im Alter von neunzehn Jahren das Leben nehmen wollte. Er überlebte den Sturz. Heute, zweiundzwanzig Jahre später, ist er einer der bekanntesten Aktivisten, die sich für Suizidprävention einsetzen.
„Wenn mich auch nur ein Passant auf dem Weg zum Brückengeländer fragen würde, wie es mir geht, würde ich nicht springen.“
Doch die einzige Person, die ihn angesprochen habe, sei eine Touristin gewesen, die ihn bat, ein Foto von ihr zu machen. Wie es ihm ging, hatte sie nicht gefragt. Und auch sonst habe niemand gefragt – Hines sprang. Schon im Fall habe er es bereut, gibt er später an.
„Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Schmerzen“, sagt Hines über das Aufkommen auf dem Wasser in dem Buzzfeed YouTube-Video „I Jumped Off The Golden Gate Bridge“, das über 8,5 Millionen mal angesehen wurde.
Was nach dem Aufkommen auf die Wasseroberfläche geschah, scheint wie ein Wunder: Ein Seelöwe, dem Kevin Hines im Nachhinein den Namen „Herbert“ gegeben hat, hielt ihn über Wasser, bis Hilfe kam. Mit einigen gebrochenen Wirbeln wurde Hines ins Krankenhaus eingeliefert.
Einige Monate später sprach Kevin Hines zum ersten Mal öffentlich über seinen Suizidversuch vor 120 Kindern und Jugendlichen. Der Krankenhauspfarrer habe ihn dazu überredet, zunächst sei er skeptisch gewesen. Nach dem Vortrag wandten sich sechs der Zuhörenden an ihn und erzählten von eigenen Suizidgedanken. Seit dieser ersten Rede sind viele weitere gefolgt. „Viele unterschätzen, welchen Einfluss einige Worte haben können“, so Hines. Einige Worte, das hatte sich auch Hines damals für sich gewünscht. Gerade deshalb habe er es sich zur Gewohnheit gemacht, Menschen Gespräche anzubieten, wenn er das Gefühl habe, dass es Ihnen nicht gut gehe. “Life is a gift, that is why they call it the present. Cherish it always.” – das sei heute Hines Mantra. Mit seiner Arbeit zeigt Hines anderen Betroffenen, dass es möglich ist, das Leben zu schätzen. Auch wenn man es eigentlich schon beenden wollte.
Bipolare Störung
Obwohl Kevin Hines mittlerweile öffentlich als Aktivist im Bereich Mental Health auftritt und damit internationale Bekanntheit erlangt hat, muss er sich neben der Aufklärungsarbeit auch um seine eigene psychische Gesundheit kümmern – jeden Tag, wie er erzählt.
Kevin Hines ist an einer bipolaren Störung erkrankt. Bei einer bipolaren Störung leiden die Erkrankten an manischen und rezidivierenden depressiven Phasen, die bei Betroffenen oft Suizidgedanken auslösen. Eine bipolare Störung hält oft lange an – doch kann mit Therapie und Medikamenten behandelt und die Stärke der Stimmungsschwankungen abgefedert werden. Wie oft die Phasen wechseln, ist individuell. Eine Phase kann drei Monate anhalten oder mehrfach in der Woche wechseln.
Die Symptome einer manischen Phase / von Hypomanie sind:
- anhaltende, leicht gehobene Stimmung
- gesteigerten Antrieb und Aktivität
- auffallendes Gefühl von Wohlbefinden
- Gesteigerte Geselligkeit, übermäßige Vertraulichkeit und hohe Libido
- Vermindertes Schlafbedürfnis
- Reizbarkeit, Selbstüberschätzung
- Halluzinationen, Wahn
Die Symptome einer rezidiverenden (wiederkehrenden) Depression sind:
- Niedergeschlagenheit
- Antriebslosigkeit und Interessensverlust
- Vermehrter Schlaf oder Schlaflosigkeit
- Vermindertes Selbstwertgefühl
- Appetitlosigkeit
- Schuldgefühle
- Suizidalität
Der Beginn der sich abwechselnden Episoden steht oft im Zusammenhang mit belastenden Ereignissen im Leben der Betroffenen. So war es auch bei Kevin Hines. Öffentlich erzählt er von seiner frühen Kindheit mit drogenabhängigen Eltern. Auch wenn er später in eine Adoptivfamilie kam, die Kindheitstraumata zeichnen ihn noch immer, erzählt er.
Die Suizidgedanken, unter denen Hines leidet, seien nach dem Sprung von der Golden Gate Bridge wiedergekommen – doch er habe einen anderen Umgang damit gefunden. Neben Medikamenten, Atemtechniken, ausgewogener Ernährung und Meditation habe er mittlerweile sein größtes Werkzeug gefunden. Die vier Worte:
„Ich brauche Hilfe. Sofort.“
Schon einige Male habe er sich mit diesen Worten selbst in die Psychiatrie eingewiesen oder sie zu Flughafenpersonal gesagt, während einer Panikattacke. Auszusprechen, dass man Hilfe braucht, kann viel von der betroffenen Person erfordern, vielleicht auch Angst machen. Hines hat die Erfahrung gemacht, dass ihm diese vier Worte geholfen haben. Viele Institutionen sind darauf vorbereitet, was geschieht, wenn jemand nach Hilfe fragt.
In jedem Krankenhaus ist es möglich, bei einer akuten psychischen Krise Hilfe einzufordern. Stürzt jemand und verdreht sich den Arm, wird dieser Person in der Notaufnahme eines Krankenhauses geholfen. Das gleiche gilt für psychische Erkrankungen, bei Suizidgedanken und Krisen. Es bedeutet nicht, dass Betroffene umgehend in die Psychiatrie eingewiesen werden. Meist wird ihnen zunächst ein Gespräch mit einem Arzt oder einer Ärztin angeboten.
Hines Aktivismus
Kevin Hines setzt sich auch ganz direkt an dem für ihn prägenden Ort, der Golden Gate Bridge, für Vorkehrungen zur Suizidprävention ein. Mehr als 1800 Menschen sind durch den Sprung von der Golden Gate Bridge seit der Eröffnung 1937 ums Leben gekommen. In dem Wikipedia-Artikel der Brücke gibt es sogar einen eigenen Abschnitt zum Thema Suizid. Hines erzählt, er fühle sich mit den Menschen, die durch den Sprung starben, verbunden. Er ist einer von nur sechsunddreißig Personen, die den Fall überlebten. Das ist weniger als ein Prozent.
Gemeinsam mit der “Bridge Rail Foundation” und weiteren Unterstützern bewirkte er schließlich, dass ein 200 Milllionen teures Sicherheitsnetz um die Brücke montiert wird. Nicht nur soll es Springende auffangen, sondern auch einen präventiven Abschreckungseffekt haben. 2023 soll das Netz freigestellt werden. Als Hines Teile des Netzes zum ersten Mal gesehen hat, sagte er: „This is one of the most special days of my life“. Zudem wurden Telefone auf der Brücke aufgestellt, von denen aus Menschen in Not Kontakt suchen können.
Doch nicht nur die Golden Gate Bridge betreffend ist Hines aktiv. Er spricht zum Beispiel mit Kriegsrückkehrern, die durch traumatisierende Erlebnisse mit ihrem Leben hadern. Später saß er unter anderem im Vorstand der International Bipolar Foundation, kurz IBPF, die anderen Betroffenen helfen und über die Erkrankung aufklären soll.
Auf seiner Website wird Hines als „Survivor“ und „Storyteller“ vorgestellt. Mit seiner Arbeit verbindet er beides: Mit den Reden, in denen er seine Geschichte als Überlebender teilt, erreicht er Menschen auf der ganzen Welt, zum Beispiel mit seinem Podcast HINESIGHT.
Auf seinem YouTube Kanal postet er Videos seiner Reden und direkte Tipps für psychisch Erkrankte in Videos wie „4 Mental Health Hacks you need to know“.
Der Schlüssel in dem, was Hines tut, liegt in der Offenheit, in der er über seine Geschichte spricht. Hines verkörpert keinen klassischen Helden, der nach einer Krise alles zum Guten wenden konnte. Was seine Arbeit so wichtig macht, ist nicht zu verschweigen, dass er auch nach seinem Suizidversuch und dem Schritt in die Öffentlichkeit Rückschläge und tiefe Krisen hat, in denen er selbst Hilfe braucht. Und: Er ruft zum Gespräch auf. Zum Hinhören, Nachfragen und dazu, um Hilfe zu bitten, wenn man sie braucht.
Wenn es dir nicht gut geht, oder du selbst Suizidgedanken hast, kannst du hier Hilfe finden:
Telefonseelsorge Deutschland, kostenfrei, anonym und rund um die Uhr erreichbar: 0800 / 111 0 111
Eine Liste der bundesweiten Hilfsstellen findet du hier:
In jedem Krankenhaus ist es möglich, sich zu Tag und Nacht in der Notaufnahme zu melden. Auch Rettungsdienste (112) und Polizei (110) können im Notfall angerufen werden.
Auch wenn du dir Sorgen um einen Menschen machst, kannst du dich an die Hilfsangebote wenden.