Kathrin Weßling

Autorin Kathrin Weßling über chronische Erkrankungen

"Wo die Angst ist, ist der Weg"

Die Autorin Kathrin Weßling erzählt auf ihrem Instagram-Account ungeschönt von ihrem Leben mit ADHS und chronischer, körperlicher Krankheit. Wir haben sie kurz nach erscheinen ihres fünften Romans „Sonnenhang“ getroffen und mit ihr über das Schreiben, Angst und ihre 80-Jährigen Nachbarinnen gesprochen.

Inhalt

„Ich schreibe, seit ich denken kann. Und ich liebe das Internet. Deshalb schreibe ich genau das auch voll“, sagt Kathrin Weßling über sich. Das Internet, das Schreiben, sie nutzt es, um von ihrer chronischen Erkrankung zu erzählen, die sie oft über Wochen daran hinter, ihre Wohnung zu verlassen. Auch Erfahrungen mit ihre ADHS-Diagnose und Depression teilt Kathrin Weßling online, schon seit 15 Jahren. Nur wenige Minuten nach unserer Interviewanfrage sagt sie zu. Drei Tage nach der Buchpremiere zu ihrem fünften Roman „Sonnenhang“ treffen wie sie in einem Google-Meets-Raum. Das ist ihr wegen ihrer Gesundheit am liebsten so.

Chronisch krank

Wie geht es dir heute?
Gerade geht es mir meistens ganz gut. Vorgestern war meine Buchpremiere, das hat sich angefühlt wie Geburtstag feiern, nur mal zehn. Ich wünschte, ich könnte die Gefühle von diesem Abend irgendwo speichern und immer wieder rausholen. So oft habe ich da gedacht: Ich habe eigentlich so ein schönes Leben.

Wie waren die Wochen davor?

Ein krasser Gegensatz zu diesem Abend. Durch meine chronische Erkrankung konnte ich in den letzetn drei Wochen nur zwei, dreimal rausgehen und meistens überhaupt nicht aufstehen.

Teil des Ehlers-Danlos-Syndroms, das ich habe, ist chronische Fatigue, wie man es von Long-Covid kennt. Der letzte Schub kam mit wahnsinnigen Schmerzen und Schwäche. Zu der Krankheit gehört auch, dass mein Magen gelähmt ist und ich mich sehr oft übergeben muss.

Ehlers-Danlos-Syndrom ist eine seltene, chronische Krankheit, die bei einer von 5.000 bis 10.000 Personen auftritt. Es ist ein Sammelbegriff für verschiedene Typen von Bindegewebsstörungen, die teilweise durch eine Hypermobilität der Gelenke, überdehnbare Haut und instabile Gewebe gekennzeichnet sind. Die Erkrankung beruht auf genetischen Defekten und verläuft fortschreitend.

Was hilft dir in diesen Phasen?

Ich spiele stundenlang Candy Crush und gucke Serien. Vier Stunden Arbeit im Homeoffice kriege ich auch gut hin. Seelisch sind diese Zeiten aber sehr schwer. Vor allem, wenn ich Sachen absagen muss, auf die ich mich sehr gefreut habe. Das sind Momente, in denen ich vor Wut und Trauer ins Kopfkissen schreie. Insgesamt komme ich aber nur zurecht, wenn ich nicht zu viel jammere.
Die Diagnose mit dem Ehlers-Danlos-Syndrom hast Du erst 2024 erhalten. Hat sich dadurch etwas für dich verändert?
Ich lebe jetzt schon seit 40 Jahren mit diesem Körper, die Krankheit war ja schon immer da. Trotzdem hilft es, dass das, was mit mir los ist, jetzt einen Namen hat. Wenn ich mich früher wochenlang zurückgezogen habe, dann dachte ich, dass ich jetzt eine depressive Phase habe. Dabei waren das oft Schübe, statt Depression. Jetzt kann ich das besser einordnen. Außerdem kann ich besser behandelt werden und andere Medikamente bekommen.
Online erzählst du von deiner psychischen und körperlichen Erkrankung. Unterscheiden sich die Reaktionen darauf?
Gar nicht so sehr, weil das Ehlers-Danlos-Syndrom so selten und unbekannt ist, dass die wenigstens etwas damit anfangen können. Wirkliche Unterschiede merke ich vor allem im echten Leben. Manchmal muss ich eine Halskrause tragen oder eine Hüft-Orthese, damit werde ich sehr anders behandelt. Besonders im Zug ist mir das letztens aufgefallen. Früher hatte ich da oft so starke Panikattacken, dass ich dachte, ich sterbe gleich. Damit bin ich aber unter dem Radar gelaufen. Wenn ich jetzt mit der Halskrause im Zug sitze, behandeln mich alle, als wäre ich aus Seidenpapier und würde jeden Moment auseinanderfallen .
Wie fühlt es sich für dich an, dass deine Erkrankung so sichtbar wird?
Ich trage die Halskrause nicht gerne. Man assoziiert so eine Halskrause mit einem Unfall, oder einer schlimmen Verletzung. Wenn die Leute dann schauen, ist das unangenehm. Gleichzeitig gehört die Halskrause zu genau den Dingen, die mir am meisten Erleichterung verschaffen, weil bei meiner Erkrankung die Muskulatur nicht wie normal funktioniert und es anstrengend ist, den Kopf zu halten. Also muss ich lernen, die Blicke zu ignorieren. Ich verstehe auch, warum geguckt wird. Ich mache das auch.

Wie fühlt sich ADHS an?

Du postest nicht nur zu deiner körperlichen Erkrankung, sondern auch zu deiner ADHS-Diagnose. Gibt es genug Aufklärung über die Wechselwirkungen dazwischen?

Das hängt ja viel zusammen. Ich erlebe immer noch, dass mich Leute total entgeistert ansehen, wenn ich ihnen erkläre, dass sich das Gehirn mit Depression verändert und man die Krankheit sehen kann. Das Gehirn ist ein Organ, und es kann krank werden. Ich meine, was denken die Leute denn, wie Antidepressiva wirken?

Wie wirken sich deine körperlichen Beschwerden auf deine Psyche aus?

Wenn es mir dann körperlich nicht gut geht und ich mich nicht abreagieren kann, fühle ich mich gefangen in meinem eigenen Körper. Die Kombination mit ADHS ist einfach die Hölle.

Wie fühlt sich ADHS an?
Meinen Eltern beschreibe ich es immer so: Es ist wahnsinnig laut in meinem Kopf. Ich höre ganz viele Stimmen, alle Varianten meiner eigenen. Eine kommentiert zum Beispiel, was sie sieht, eine denkt über irgendwas von vor zwei Wochen nach, eine scannt meinen Körper. Sobald ich aufwache, ist es da. Wie so einen Volumen-Knopf, der hochgedreht wird und den ich nie, auch abends nichts, runterdrehen kann. Seit zehn Jahren kann ich auch ohne Medikamente nicht mehr schlafen.
Online wird der „Hyperfokus“, ein Zustand starker Konzentration, den viele Menschen mit ADHS kennen, immer wieder als Superkraft von ADHSlern gefeiert.
Ein Hyperfokus ist ätzend, weil man vorher ja nicht entscheiden kann, was es ist. Ich kann mich dann am Tag zehn Stunden mit einer Sache beschäftigen, bis mein Gehirn völlig willkürlich nach zwei, drei Monaten entscheidet, nie wieder Interesse daran zu haben.
Was war das bei dir zuletzt?

Eine Zeit lang war das für mich Gaming, ich habe hypomanisch Zelda gespielt. Ich war der Überzeugung, ganz viele Spiele und unbedingt eine Playstation 5 zu brauchen. Die 500 Euro dafür habe ich ungefähr eine Woche, bevor der Hyperfokus vorbei war, ausgegeben und jetzt steht sie nur herum.

Auf den sozialen Medien wird gerade viel zu ADHS gepostet. Wie blickst du darauf?.
Da sagen ja dann immer viele, dass das eine Modeerscheinung wäre. Das wurde vor ein paar Jahren auch noch über Depression gesagt, und zwischendurch über Autismus. Mich nervt es manchmal auch, wenn Leute, die frisch diagnostiziert sind, direkt ganz viele Infoposts teilen. Man muss seine Diagnose erstmal kennenlernen. Aber viele ADHSler sind eben auch extrovertiert und haben ein hohes Mitteilungsbedürfnis. Kein Wunder, dass das halbe Internet voll davon ist. Wir sind halt Labertaschen.

„Die mit der Depression“

Du hast schon vor 15 Jahren angefangen, online von deiner psychischen Erkrankung zu schreiben. Eine Zeit, in der das noch kaum jemand gemacht hat.

Ich habe über meinen Alltag mit Depression und in der Klinik gebloggt. Bevor ich damit angefangen habe, habe ich sehr lange darüber nachgedacht, ob das richtig ist.

Wie hast du gemerkt, dass es das Richtige für dich ist?

Ich habe es gebraucht, ich verzweifelt, auch finanziell. Ich habe von Hartz IV gelebt und war schwer depressiv. Das alles habe ich lange geheim gehalten und 1000 Ausreden für alles Mögliche erfunden. Dieses Verhalten ist irgendwann umgeschlagen in das Bedürfnis, öffentlich darüber zu sprechen.

Welche Reaktionen gab es darauf?

Es gab Freunde, die sich von mir abgewendet haben, weil ich mich öffentlich so gezeigt habe. Ich selbst habe mich dadurch aber nie verletzlich gefühlt, sondern stark. Schwäche zeigen heißt Stärke, das habe ich gelernt. Außerdem: Leute, die lästern wollen, tun es eh. Egal, wie viel man online von sich preisgibt.

Ist das also der beste Weg?

Ich würde nie einfach raten, so offen zu sein wie ich. Ich bin in einer privilegierten Situation, in der ich mich in einem Arbeitsumfeld bewege, was okay damit ist. Und ich lebe in Berlin. Aufgewachsen bin ich aber in einer Kleinstadt. Dort habe ich auch erlebt, dass dann manche schlecht reden.

Wie geht dein Arbeitsumfeld mit deiner psychischen Erkrankung um?

Erstmal betonen alle, wie viel Verständnis sie haben. Wenn man dann aber wirklich mal über Monate ständig ausfällt, oder es einem schlecht geht und deswegen die Leistung absinkt, dann sind viele auf einem weniger nett. Das Verständnis geht so weit, wie man leistungsfähig bleibt.

Hattest du Angst, durch deinen offenen Umgang „die mit der Depression“ zu sein?

Es hat lange gedauert, bis nicht mehr alles, was ich gesagt, geschrieben oder gemacht habe, in diesen Kontext gesetzt wurde. Besonders nach meinem Debüt „Drüberleben“, in dem es um eine junge Frau mit Depressionen in einer Klinik geht, war das so. Aber auch später wurde auf meine Bücher immer projiziert, dass es um Depression ginge. Dabei geht es darin auch um total viele andere Sachen. „Sonnenhang“ habe ich jetzt bewusst anders geschrieben. Ich hatte keinen Bock mehr auf so viel Schwere. Ich wollte auch für mich mal ein bisschen mehr Sonne im Leben.

Sonnenhang / Schreiben

Deine Werke werden oft als autobiografisch gedeutet. Jetzt heißt die Hauptfigur in „Sonnenhang“ Katharina Webeling. Da kann man schon auf Ideen kommen…

Ja, dieser Name ist echt nach hinten losgegangen (lacht). Ich wollte es eigentlich ad absurdum führen, dass immer alle denken, ich würde nur über mich schreiben.

Wie reagierst du auf diese Deutungen?

Wenn Frauen Romane mit einer weiblichen Protagonistin schreiben, dann werden sie immer mit ihnen verglichen. Teilweise macht mich das richtig sauer, weil mir damit unterstellt wird, dass ich mir nichts ausdenken könnte. Selbst bei meinem Buch „Nix passiert“, das eine männliche Hauptfigur hat, dachten viele Kritiker aber noch, dass ich das wäre. Mich nervt das wie sau.

Nach deinem Roman „Super und dir?“, in dem es unter anderem um Überarbeitung und Angst geht, bist du als „Stimme deiner Generation“ bezeichnet worden. Was ist das Gefühl deiner Generation, der Millennials?

In dem Roman habe ich die Gefühle, in der harten Arbeitswelt immer funktionieren und sich selbst ständig optimieren zu müssen, eingefangen. Wir müssen uns ständig totarbeiten, etwas machen, um etwas wert zu sein. Das ist schon prägend für die Millennials. Mittlerweile wird der Gen Z dagegen vorgeworfen, faul zu sein. Den Wert einer Generation an ihrem ökonomischen Erfolg zu messen, finde ich furchtbar.

In „Sonnenhang“ arbeitet deine Protagonistin ehrenamtlich in einem Altersheim. Woher kam die Idee zu dieser intergenerationellen Ebene?

Ich wollte selbst auch so ein Ehrenamt machen, konnte aber nicht, weil ich nicht zuverlässig zusagen kann, einmal in der Woche irgendwo zu sein. Ich liebe alte Menschen. In mir selbst wohnt auch eine Omi. Ich liebe Likörchen trinken, ZDF gucken, Kniffeln. In dem Haus, in dem ich wohne, verstehe ich mich auch am besten mit zwei Frauen über 80, Ingrid und Gabi. Die haben alles schon gesehen, die juckt nichts mehr. Und sie wissen, wie wichtig Gesundheit ist.

„Sonnenhang“ zeigt auch, wie wichtig Freundschaften sind.

Von meinen Eltern habe ich früh gelernt, dass Freundschaften alles sind und man sie pflegen muss. Gerade wenn man, wie ich, keine eigene Familie hat. Meine Freundschaften beuteten mir so viel wie anderen Menschen Liebesbeziehungen.

Verändert dich dein eigenes Älterwerden?

Das Geilste daran ist, dass mir vieles egaler wird. Wenn ich vor zehn Jahren gesagt habe, es sei mir egal, was andere von mir denken, war das Bullshit. Es hat mir alles bedeutet. Heute ist es aber wirklich anders. Wenn Typen im Internet schreiben, ich sei hässlich, dann juckt mich das nicht mehr.

Du sagst über dich selbst: „Schreibt, seit sie denken kann.“ Was bedeutet Schreiben für dich?

Früher habe ich gesagt, dass Schreiben keine Therapie ist. Aber irgendwie ist es doch so. Also, ein Roman ist keine Therapie, sondern Arbeit. Aber Schreiben ist eine Brücke nach draußen, zu den Menschen. Nicht das Schreiben ist die Therapie, sondern die Resonanz darauf. Das ist Teil des Autorinnen-Seins: Man will Liebe und Aufmerksamkeit und Resonanz und in Kontakt treten mit der Menschheit.

Du hast mal gesagt, Angst ist ein Antrieb für dich, auch für das Schreiben.

Ja. Ich habe eine Person in meinem Leben, an der ich gesehen habe, was es bedeutet, wenn Angst das Leben beherrscht. Ich habe mal den Satz gelesen: Wo die Angst ist, ist der Weg. Das würde ich mir sogar tätowieren lassen.

Was heißt er für dich?

Ich mache, wovor ich Angst habe. Jetzt nicht Fallschirmspringen oder so. Aber ich hatte jahrelang Angst davor, ein neues Buch herauszubringen, weil ich so müde davon war, bewertet oder fertiggemacht zu werden. Manchmal liegt in dem, wovor man Angst hat, aber das größte Glück versteckt. Wenn man vor etwas Angst hat und es dann trotzdem schafft, ist das die maximale Glückseligkeit.

Sonnenhang von Kathrin Weßling

Hinweis: Die Bücher „Sonnenhang“ und die Neuauflage von „Drüberleben“ wurde dem Semikolon-Blog vom Rowohlt-Verlag zur Verfügung gestellt.

Dieser Beitrag wurde von einer ärztlichen Psychotherapeutin redigiert. 

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Maja

“Psychische Erkrankungen begegnen uns häufiger als wir denken. Wir müssen hinsehen und darüber reden.”