Die Künstlerin Dani
Ein Mädchen in gelbem Rock und schwarzen Oberteil sitzt auf dem Boden. Ihre Knie hat sie fest an den Körper gezogen, den Kopf darauf abgelegt, die Augen geschlossen. Das Bild in kräftigen Farben hat Dani gezeichnet. Sie ist 27, hat Kunstgeschichte in Wien studiert und ist gerade nach Stuttgart gezogen. Auf ihrem Instagram-Account @sorrylines.art zeigt sie ihre Kunst. Über 10.000 Menschen folgen ihr deshalb und kommentieren Dinge wie „How do you capture emotions so well?!“ unter die Bilder.
Neben ihren oft melancholisch anmutenden Zeichnungen bietet Dani auf ihrem Account die Möglichkeit zum Austausch: Sie fragt ihre Follower, wie es ihnen geht und erzählt im Gegenzug von sich. Dabei geht es immer wieder um ihre ADHS-Diagnose.
Wie sich ADHS für sie anfühlt, ob sie dadurch kreativer ist und warum sie sich dazu entschieden hat, im Internet offen darüber zu sprechen, erzählt sie im Interview mit Semikolon.
Mental Health auf Social Media
Semikolon: Auf Instagram teilst du sowohl deine Kunst als auch Inhalte zum Thema mentale Gesundheit. Wie bist du dazu gekommen?
Dani: Ich würde sagen, ich bin chronisch online, seit ich ein Teenager war. Ich kann mich im Internet einfacher ausdrücken als anderen Menschen gegenüber. Das hat sich auch auf Instagram übertragen. Mir fällt es nicht schwer, offen zu sein. Manchmal empfinde ich einfach den Drang, etwas zu dem Thema zu sagen. Es hilft mir auch von anderen zu lesen, die darüber reden. Und vielleicht bin ich eine Person, die auch helfen kann. Oder zumindest bewirke, dass sich andere nicht alleine fühlen.
Semikolon: Auf deinem Instagram-Account fragst du deine Follower oft, wie es ihnen geht und teilst die Antworten. Wie empfindest du diesen offenen Austausch?
Dani: Ich glaube, es tut gut zu wissen, anderen Leuten gehts genauso. Das hat keinen therapeutischen Anspruch, aber sich auszusprechen kann nur positiv sein.
Semikolon: Also hast du noch keinen negativen Erfahrungen damit gemacht?
Dani: Es passiert schon, dass mich auch Sachen triggern, wenn zum Beispiel jemand eine Situation beschreibt, die ich schon so ähnlich erlebt habe. Ich kann vielen antworten und empathisch sein, aber ich muss aufpassen, dass es mich nicht zu sehr mitnimmt. Und das versuche ich eigentlich auch. Manchmal klappt es mehr, manchmal weniger. Man muss bewusst damit umgehen.
Semikolon: Denkst du, dass es wichtig wäre, gesellschaftlich mehr und offener über psychische Gesundheit zu sprechen?
Dani: Ja. Zum einen, weil es viel mehr Menschen betrifft, als man denkt. Ich kann mich erinnern, als ich fünfzehn gewesen bin, war das überhaupt nicht so, dass man sagen konnte: Ich kann jetzt nach der Schule nicht abhängen, weil ich zur Therapie gehe. Es war nie ein Thema, über das gesprochen wurde und das ist nicht okay. Das ist auch alles noch nicht so lange her. Ich bin aber froh, dass man schon offener damit umgeht, weil ich diese schmerzhafte Erfahrung gemacht habe. Aber sämtliche Medien und alles um einen herum funktioniert irgendwie für diese Mehrheitsgesellschaft. Und man kann damit nicht immer mithalten und fühlt sich wie ein Fremdkörper. Das ist, als sei die Welt nicht für einen gemacht.
Dadurch, dass zumindest in gewissen Bubbles offener über psychische Gesundheit gesprochen wird, fühle ich mich als Betroffene schon nicht mehr ganz so fremd.
Die Diagnose ADHS
Semikolon: Wann hast du deine Diagnose für ADHS bekommen?
Dani: Ich wurde schon ziemlich früh mit Depression und Angststörung diagnostiziert. Da war ich 13 oder so und bin in Therapie gegangen, aber das hat damals nicht viel gebracht. Und auch mit medikamentöser Behandlung ging es mir irgendwie nicht besser. Ich war auf einem sehr niedrigen Niveau stabil, das war nicht ideal. Und tatsächlich bin ich auf ADHS gekommen, als ich angefangen habe, mehr TikTok zu schauen. Ich habe Videos dazu angeschaut und habe mich die ganze Zeit wiedererkannt. Ich habe gedacht: Was passiert da gerade? Mein Bruder hat auch ADHS und bei ihm wurde das schon in der Kindheit diagnostiziert. Ich habe mit ihm darüber gesprochen und gemerkt, dass wir jeden Tag viele ähnliche Erfahrungen machen. Dann habe ich mit meiner Psychiaterin gesprochen und sie gefragt, was sie dazu denkt. Dann gab es die diagnostischen Tests und es kam raus, dass ADHS bei mir sehr, sehr wahrscheinlich ist. Das ganze ist gerade mal ein Jahr her.
Die Abkürzung ADHS bedeutet ausgeschrieben Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und gehört zur Gruppe der hyperkinetischen Störungen, die sich in Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität zeigen.
Die häufigsten Symptome von ADHS sind laut ICD-10:
- Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen
- Desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität
- Impulsivität
- Unachtsamkeit und die Tendenz, sich dadurch zu verletzen
- Verzögerungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung
- Dissoziales Verhalten und niedriges Selbstwertgefühl.
Semikolon: Auf TikTok und Instagram sind gerade viele Videos zu ADHS im Erwachsenenalter zu sehen, es scheint ein richtiges Trend-Thema zu sein. Wie findest du das?
Dani: Vor allem ist das ja eine humorvolle Auseinandersetzung mit dem Thema, das finde ich erst mal nicht so schlimm. Manchmal bekomme ich aber trotzdem das Gefühl, dass es auch ein bisschen für den Trend ist und frage mich, wie zielführend das ist. ADHS betrifft vielleicht einen großen Teil der Bevölkerung, aber der ist im Großen und Ganzen trotzdem recht klein. Ich bin ein bisschen skeptisch. Es ist ein Balanceakt, denn es ist gut, dass darüber gesprochen wird, aber man muss es auch nicht übertreiben.
Semikolon: Was hat sich nach der Diagnose für dich verändert?
Dani: Ich habe sofort begonnen, Medikamente zu nehmen. Das war ein krasser Moment, weil ich mich damit zum ersten Mal in meinem Leben irgendwie ruhig gefühlt habe. Das hat wirklich meine Weltsicht verändert. Es war aber auch ganz komisch. Ich fühle mich leider ziemlich oft reizüberflutet. Geräusche und grelles Licht und solche Dinge bringen mich immer leicht auf die Palme. Aber mit den Medikamenten geht es jetzt eigentlich. Und dann konnte ich plötzlich auch mal wieder mit Freunden rausgehen. Irgendwo in der Bar sitzen und Musik läuft – das war was ganz Neues für mich.
Manchmal wünsche ich mir, irgendwo noch eine spezifische Therapie zu machen, aber es ist recht schwierig, jemanden zu finden, der zu einem passt und dann auch noch genau diese Expertise hat.
Die Symptome von ADHS treten laut ICD-10 meist schon im frühen Kindesalter auf. Laut dem RKI sind 5,3% der Jugendlichen bis achtzehn Jahren mit ADHS diagnostiziert, wobei die Diagnose bei Jungen deutlich häufiger gestellt wird als bei Mädchen.
So fühlt sich ADHS an
Semikolon: Wie fühlt sich ADHS für dich an?
Dani: Ich erkläre das immer mit einer Metapher. Es gibt mit ADHS nie den Moment, wenn dieser Deckenventilator, der die ganze Zeit davor gebrummt hat, plötzlich ausgeht. Stattdessen hat man die ganze Zeit Hummeln im Hintern.
Es ist wie ein ständiger innerer Antrieb, ein Motor, der nicht aus sein kann. Und das ist dann noch immer viel zu viel von allem. Gedanken verlaufen nicht stringent, sondern es fließen immer zehn Gedanken auf einmal durch den Kopf.
Manchmal wünsche ich mir, irgendwo noch eine spezifische Therapie zu machen, aber es ist recht schwierig, jemanden zu finden, der zu einem passt und dann auch noch genau diese Expertise hat.
Semikolon: Fühlst du dich im Alltag oft eingeschränkt durch dein ADHS?
Dani: Bevor ich meine Medikamente bekommen habe sehr. Ich glaube, dass viele Situationen, die für mich unangenehm oder schmerzhaft waren, eigentlich daraus erwachsen sind, dass ich unglaublich überreizt war oder Dinge nicht verstanden hab. Ich habe nicht verstanden, was mit mir selbst passiert und ich konnte an vielem nicht teilnehmen, zum Beispiel an Gruppenunternehmungen, weil das viel zu viele Eindrücke waren, die auf mich eingeflossen sind. Ich weiß nicht, ob sich meine Depression entwickelt hat, weil man sich dann zurückzieht und sich so fühlt, als könnte einen niemand verstehen. Tatsächlich versteht es ja auch niemand, man selbst auch nicht.
In der Psychologie wird Reizüberflutung als die Menge, der Umfang und die Verschiedenheiten der Reize, die auf einen Menschen wirken und den darauf folgenden Zustand beschrieben. Durch selektive Wahrnehmung kann eine Reizüberflutung kompensiert werden. Bei Menschen mit ADHS (oder anderen psychischen Erkrankungen) ist die Filterung der Reize nicht immer automatisch gegeben, wodurch die Wirkung der Reize negative Gefühle auslösen können.
Semikolon: Wie hat dein Umfeld dann auf dein ADHS reagiert?
Dani: Ich konnte früher nicht gut darüber reden.
Später habe ich auch angefangen zu sagen, wenn mir etwas zu laut ist. Das war zum Beispiel in meiner alten WG in Wien so. Da gab es ab und zu Partys und wir haben es meistens so gemacht, dass der Teil der Wohnung, in dem ich gelebt habe, die Ruhezone, wo niemand rein durfte, war. Dort war ich dann mit meinen Katzen. Ich habe es also irgendwann doch geschafft, es auszudrücken, auch wenn ich da nicht sagen konnte: Das ist ADHS und ich bin schnell überfordert.
Semikolon: Was hilft dir heute in deinem Alltag bei Reizüberflutung?
Dani: Ich gehe meistens nicht ohne AirPods raus, die können Geräusche ganz gut filtern. Und eine Sonnenbrille aufzuziehen hilft mir auch. Dann wird alles etwas gedämpft. Und wenn ich unterwegs bin und mir alles zu viel wird, gehe ich auch einfach nach Hause, wenn das möglich ist.
Ein Trick, den ich erst vor Kurzem gelernt habe, ist außerdem, sich ganz kaltes Wasser über die Handgelenke fließen zu lassen oder sich einen kalten Waschlappen in den Nacken zu legen. Eine Schüssel mit kaltem Wasser zu füllen, am besten noch mit Eiswürfeln und das Gesicht einzutauchen, soll auch helfen, um das Nervensystem auf Reize vorzubereiten. Das kann man auch präventiv machen, bevor man irgendwo hingeht.
Die Übungen, die Dani beschreibt kommen aus der Verhaltenstherapie und nennen sich DBT Skills. Die unterschiedlichen Übungen helfen, akute Anspannungszustände zu reduzieren.
ADHS und Kreativität
Semikolon: Würdest du sagen, dass dich dein ADHS kreativer macht?
Dani: Das ist natürlich schwer zu sagen. Ich war schon immer ziemlich kreativ, seitdem ich denken kann. Wenn man davon ausgeht, dass das angeboren ist, dann könnte man sagen: ja. Ich habe schon das Gefühl, dass es sein kann, aber das ist schwierig zu beantworten.
Als Teenager war ich ziemlich obsessiv, was das Zeichnen angeht. Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, mich verbessern zu wollen, Anatomie zu lernen und solche Dinge. Während meines Studiums habe ich das dann ziemlich schleifen lassen. Das hat sich erst wieder verändert, als ich angefangen habe, digital zu zeichnen, da ist mein Gehirn total drauf angesprungen.
Ob Menschen mit ADHS tatsächlich kreativer sind als andere, ist umstritten. Unaufmerksamkeit und Konzentrationsschwierigkeiten sind zwei Kernsymptome von ADHS. Diese werden immer wieder als „Gedankenwandern“ beschrieben, wodurch kreative Ideen entstehen können. Allerdings gibt es derzeit keine Untersuchungen, die die Hypothese bestätigen, dass ADHS und erhöhte Kreativität oft gemeinsam auftreten würden.
Semikolon: Wie gut ist es für dich möglich, dich beim Malen und Zeichnen zu konzentrieren?
Dani: Es gibt diesen Begriff Hyperfokus. Meist ist es so, dass man diese eine Sache oder mehrere Sachen hat, auf die man sich total gut konzentrieren kann und auf den Rest gar nicht. Bei meinem Bruder konnte ich das eigentlich seit unserer Kindheit beobachten. Bei ihm waren das vor allem Videospiele. Er war da total drin und alles andere ging schlechter. Bei mir ist es das Zeichnen, denke ich. Da kommt so ein Zustand relativ schnell, in dem ich sehr konzentriert darauf bin.
In letzter Zeit leider weniger. Darunter leide ich. Ich bin gerade in einer Orientierungsphase, würde ich sagen. Ich habe eine Weile im Einzelhandel gearbeitet und war irgendwann total überreizt von allem und konnte nicht mehr, sowohl psychisch als auch physisch. Seitdem bin ich am Umdenken, zum Beispiel noch mehr Zeit in das Zeichnen hineinzustecken und das hauptberuflich zu machen. Das Problem dabei ist leider, dass man so eine Klemme im Kopf hat und sich damit leicht ausbremst und man zwar etwas tun will, gleichzeitig aber total gelähmt ist.
Nach dem Psychologen Russell Barkley beschreibt der Begriff Hyperfokus einen Zustand der nicht selektiv steuerbaren Konzentration im Zusammenhang mit ADHS. Der Hyperfokus wird als Flow-Ähnlicher Zustand beschreiben, der stimulationsabhängig auftritt.
Semikolon: Viele Menschen sehen deine Kunst auf Instagram. Wie viele deiner Gefühle sind in deiner Kunst zu sehen?
Dani: Meine Kunst ist ziemlich persönlich, würde ich sagen. Es ist ein ganz gutes Ventil für mich. Ich mache bessere Kunst, wenn ich mich schlecht fühle oder zumindest, wenn ich etwas sehr intensiv empfinde, als wenn es mir einfach okay geht. Wenn ich intensiv fühle, klappt das mit dem Konzentrieren auch besser. Ich spüre dann das Bedürfnis, etwas zu tun. Ich plane nichts, sondern starte mit losen Assoziationen.
Semikolon: Deine Bilder sehne oft traurig aus. Was für Rückmeldungen bekommst du dazu?
Dani: Als Teenager habe ich viel mit Bleistift gezeichnet und versucht, dass es möglichst realistisch aussieht. Schon da kam die Rückmeldung, dass die Augen, die ich zeichne, immer so lebendig sind und vielleicht auch traurig, aber sehr lebendig. Und das zieht sich eigentlich durchs Leben, auch wenn ich es nicht immer unbedingt so will, kommt es so raus. Das bekomme ich viel zurückgemeldet und ich finde es erst mal schön, dass Menschen irgendwie was fühlen bei meiner Kunst. Ich würde nicht sagen, dass ich von Natur aus trauriger Mensch bin, aber die Melancholie ist als Teil meiner Sichtweise vorhanden. Nicht, dass ich pessimistisch wäre, aber da ist immer so ein Weltschmerz irgendwie dabei. Deswegen finde ich eigentlich besonders, dass Menschen sich irgendwie connecten können mit meinen Motiven.
Das Interview wurde im Juni 2022 via Zoom geführt.