Wie läuft eine Psychoanalyse ab?
Semikolon: Für wen ist eine Psychoanalyse besonders gut geeignet?
Elisabeth Kohler: Ich würde das weder am Alter noch an Diagnosen festmachen. Grundsätzlich würde ich sagen, dass eine analytische Therapie mehr für Menschen gedacht ist, die in verschiedenen Bereichen Schwierigkeiten mitbringen, und nicht nur durch ein akutes Ereignis aus der Bahn geworfen wurden, ihr Leben aber grundsätzlich gut meistern können.
Semikolon: Wie oft finden die Sitzungen bei einer Psychoanalyse statt?
Elisabeth Kohler: Analytische Therapien dauern in der Regel länger als andere Therapieformen und sind intensiver. Manche Kollegen plädieren für drei und mehr Sitzungen pro Woche. Ich persönlich halte eine oder zwei Stunden in der Woche meist für ausreichend und sinnvoll, weil ich finde, dass die Therapie mit dem alltäglichen Leben kompatibel sein muss. Aber es macht schon einen Unterschied, ob ich eine einstündige Therapie mache oder eine zweistündige. Aus der Psychoanalyse hat sich später noch die tiefenpsychologisch fundierte Therapie entwickelt, die den gleichen theoretischen Hintergrund hat, aber ein etwas kompakteres Setting, wo es nur um eine fokussierte Bearbeitung geht.
Ich denke aber, das meiste passiert sowieso zwischen den Therapiesitzungen.
Semikolon: Weil die Inhalte in der Zwischenzeit “weiterarbeiten?”
Elisabeth Kohler: Genau. Das gilt für die eigenen Wachstumsprozesse bis hin zu den Neuronen, die im Gehirn wachsen. Das braucht einfach Zeit. Ich denke dabei immer wieder an das Bild von Regen, der langsam durch Gesteinsschichten sickert. So erlebe ich das auch manchmal mit Erkenntnissen bezüglich sich selbst oder der eigenen Umgebung. Es dauert, bis dieses innere Wissen allmählich hinein rieselt und sich zu einem guten Grundwasser sammeln kann. Neben der Zeit braucht es natürlich die gute Vernetzung mit dem Alltag. Es geht nicht darum, im Therapieraum glücklich zu sein, sondern das in die alltäglichen Herausforderungen hinaustragen zu können.
Arbeit und Wirkung
Semikolon: Wie kann man sich eine Therapiestunde in der Psychoanalyse vorstellen?
Elisabeth Kohler: Die Therapie steht und fällt mit dem Vertrauen, was wachsen kann oder eben nicht. Die Therapiestunden sind nicht inhaltlich vorgegeben. Es geht gerade darum, auch das Unbewusste sprechen und aufscheinen zu lassen. Es ist meist gut, keinen festen Plan für die Stunden zu haben, sondern zu sehen: Was liegt gerade obenauf, ist aktuell? Was wurde erlebt in der vergangenen Woche? Mit welchen Gedanken sitzt oder liegt jemand gerade da? Oder mit welchen Körperempfindungen? Meist stelle ich gar keine Frage zu Beginn, sondern warte ab, was kommt und was findet dann ins Wort, bei meinem Gegenüber und bei mir.
Semikolon: Wie lange geht eine psychoanalytische Therapie?
Elisabeth Kohler: Für manche ist eine tiefenpsychologische Kurzzeit-Therapie das angemessene, für manche eine tiefenpsychologische Langzeittherapie. Das sind zwischen 50 bis maximal 100 Stunden. Wobei es immer Spielraum gibt, zum Beispiel, wenn man nach 48 Stunden das Gefühl hat, jetzt ist man eigentlich da, wo man gerne hinwollte und was man auch in den ersten Stunden als Ziel besprochen hat. Ist das eingetreten, kann man natürlich auch schon früher aufhören. Die analytische Therapie geht bis zu maximal 300 Stunden. Ich nutz aber ganz selten das maximale Kontingent an Stunden. Die meisten meiner Patienten sind nach 240 Stunden in etwa da, wo sie sagen: Jetzt kann ich mal ganz gut alleine gehen.
Semikolon: Sie arbeiten auch viel mit sogenannten “inneren Bildern”. Ist das auch eine Methode der Psychoanalyse?
Elisabeth Kohler: Ich halte Imaginationen für eine ganz wesentliche Quelle von Heilung. Schon C. G. Jung, einer der Gründerväter der Psychoanalyse, hat dem ein ganz großes Gewicht beigemessen. Wir leben von inneren Bildern. Auch jetzt, während ich spreche, entstehen innere Bilder unterschiedlichster Art. Die Forschung zeigt, dass ständig Bilder in uns ablaufen. Wenn ich zum Beispiel von einem roten Apfel spreche, dann entsteht irgendein inneres Bild, auch wenn das nicht wie eine Fotografie im Kopf ist. Das zu nutzen und heilsame Bilder für sich zu entwickeln, dazu lade ich in der Therapie ein und greife dabei auch Sprachbilder und Metaphern auf, die meine Patienten verwenden.
Ich rate dazu, immer wieder in diese Bilder und Momente einzutauchen, um die eigenen Kräfte zu stärken. Das kann man ritualisieren; nach dem Aufstehen oder bevor man sich ins Auto setzt und zur Arbeit fährt zum Beispiel.
Semikolon: Wie wirkt die Therapie?
Elisabeth Kohler: Es geht in erster Linie um einen liebevollen Beziehungsaufbau zu sich selbst und seiner Umgebung. Dazu gehört, überhaupt zu lernen, sich selbst wahrzunehmen. Viele Menschen können sich erstaunlich wenig wahrnehmen und sich sowohl körperlich als auch seelisch differenziert spüren. Weshalb geht es mir jetzt schlecht? Was sind das eigentlich für Gefühle? Ist es gerade Traurigkeit, die da in mir ist? Oder bin ich gerade eigentlich total wütend? Ist es ein Ärger? Oder ist es eine Aggression gegen mich? Ist es eher körperliche Anspannung? Ist das eine Regung der Freude in mir oder eine Regung der Angst? Und so weiter. Um zu lernen, das zu differenzieren, braucht man schon als Kind ein Gegenüber, das einem das immer wieder deutet. Diese Rolle haben meistens die Eltern, die dann so etwas sagen wie: Ah, bist du enttäuscht, weil deine Freundin nicht kommt? So kann das Kind lernen: Okay, dieses Gefühl nennt man Enttäuschung.
Wenn man da aber niemand hatte, der die eigenen Gefühle bemerkt, benannt und mit einem zu differenzieren gelernt hat, dann kann man das auch als Erwachsener noch ganz schlecht. Und das zu lernen, sich differenziert wahrzunehmen, das in Sprache zu bringen und dann auch allmählich modifizieren zu lernen, ist wichtig.
Dazu gehört, die eigenen Gefühle in ihren Kontexten begreifen zu lernen und zu verstehen, dass diese durchaus etwas damit zu tun haben, wie man gerade denkt, wie man die Welt wahrnimmt und ob man sich selbst mehr Aufmerksamkeit schenkt oder dauernd im Außen ist und so weiter. Darum geht es in der Therapie: Das zu lernen und letztendlich eine selbst-mitfühlende, wohlwollende Haltung sich selbst gegenüber einzunehmen. Natürlich geht es aber nicht um eine Nabelschau, sondern auch um den Blick nach außen.
Semikolon - Nachgefragt
Semikolon: Denken Sie, wir sollten gesellschaftlich mehr über psychische Erkrankungen sprechen? Wenn ja, warum?
Elisabeth Kohler: Ich glaube, dass da in den letzten Jahren zum Glück schon viel passiert ist. Trotzdem ist es weiterhin ganz wichtig, weil das Thema immer noch mit Tabus und Scham belegt ist. Darüber zu sprechen ist wichtig, damit wir Hemmschwellen abbauen, offener werden und uns gegenseitig bereichern. Ich glaube, wir können viel voneinander lernen über die Dinge, die wir im Laufe unseres Lebens entwickelt haben, um uns zu stabilisieren und Krisen zu bewältigen. Es wäre schön, wenn das Thema psychische Gesundheit noch ein viel breiteres Forum bekäme.
Semikolon: Was kann jede:r Einzelne tun, um zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen beizutragen?
Elisabeth Kohler: Das Stichwort Ehrlichkeit ist da ganz oben dran, ohne dass man immer das Intimste von sich erzählen muss. Darin sehe ich sogar eher ein Problem, dass neben der Überwindung von Scham vielleicht auch das Maß für die eigene authentische Offenheit verloren gehen kann. Ich glaube, dass man ganz klein anfangen sollte, nämlich damit, im eigenen Umfeld, Freund- und Partnerschaften über Gefühle zu sprechen. Über das, was uns freut, was uns kränkt und Hoffnung gibt. Ich glaube, sich die Zeit zu nehmen und wirklich miteinander zu sprechen ist fast das Wichtigste. Dafür braucht es einen Raum frei von vielen Reizen. Ich würde sagen: Schalt dein Handy aus, nimm Blickkontakt auf. Mach dir selbst bewusst und gib deinem Gegenüber das Gefühl, dass das ein einmaliger Moment der Begegnung ist. Alfred Adler drückt das so aus: „Mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen fühlen zu lernen.“ Also sollte man sich auch die Zeit nehmen, in eine solche Begegnung hineinzuwachsen. Ich wünsche mir, dass es mehr dieser Alltagsbegegnungen gibt.