Mythos Sisi
Sisis “Schönheitswahn”
Aus heutiger Perspektive lassen viele von Sisis Verhaltensweisen auf eine Essstörung und Depression zurückführen. Gerade Sisis sogenannter “Schönheitswahn” bietet viel Stoff für Spekulationen. Das Lifestyle-Magazin “Desired” titelt: “8 wirklich skurrile Beauty-Rituale der Kaiserin”, die “Elle” beschreibt sie als “Schönheitsidol und Rebellin” und die InTouch wartet mit der Überschrift “Sissi: Schönheitswahn! Diese fiese Krankheit hatte Kaiserin Elisabeth” auf. Hinter diesen reißerischen Überschriften verbirgt sich, was über Sisis Schönheitsrituale bekannt ist – die bereits zur Genüge für Spott und Faszination der Kaiserin gegenüber gesorgt haben. Sie machen aus dem selbstschädigenden Verhalten, was von Sisi bekannt ist, eine Bagatelle.
Gerade die Haarpflege-Routine Sisis sorgt bis heute regelmäßig für Schlagzeilen. Vom Wiener Burgtheater hatte Sisi ihre hauseigene Friseurin Fanny Angerer abgeworben. Das Waschen ihrer langen Harre soll einen ganzen Tag gedauert haben, seien ihr beim Kämmen Haare ausgefallen, soll Sisi regelrecht jähzornig reagiert haben. Sisis Alltag war von der Fixierung auf ihren eigenen Körper geprägt, für ihre Lebenszeit ein sehr ungewöhnliches Verhalten. Schlägt man “Schönheitsideal” bei Wikipedia nach, so landet man im neunzehnten Jahrhundert direkt selbst bei ihr, so prägend war die Kaiserin, die weithin als “Schönste Frau der Welt” galt, für ihre Zeit. Dabei ist die Geschichte dahinter eine traurige.
Die Kaiserin hielt sich an zahlreiche strikte Diäten, während es am Wiener Hof damals noch üblich war, fünf Mahlzeiten am Tag zu essen. Darüber hinaus trieb Sisi exzessiv Sport, neben dem Reiten unternahm sie lange Wanderungen und Turnübungen in ihrem Sportzimmer in der Wiener Hofburg, das heute noch besichtigt werden kann. Die Mangelernährung Sisis und die depressiven Verstimmungen der Kaiserin, die überliefert sind, werden aus heutiger Sicht als Zeichen für Anorexie interpretiert.
Sisis Leiden als Volkskrankheit?
Was über Sisis mentalen Zustand bekannt ist, wird heute regelmäßig als Volkskrankheit bezeichnet. Viele Internetseiten gehen so weit, das sogenannte “Sisi-Syndrom” drei Millionen Deutschen zuzuschreiben. Um eine offiziell anerkannte Krankheit handelt es sich dabei aber nicht.
Beschrieben wird das “Sisi-Syndrom” als Form der Depression, die über gesteigerte Aktivität maskiert wird. Die Depression sei beim “Sisi-Syndrom” vor allem durch Unrast, Sprunghaftigkeit, strenges Fasten und körperliche Hyperaktivität gekennzeichnet.
Nicht nur eine Verlagerung auf Sport oder das Aussehen, sondern auch Reisen oder viel Arbeit können für die Betroffenen, Männer genauso wie Frauen, Wege sein, mit denen sie versuchen, ihren Problemen zu entkommen.
Die Beschreibung erinnert an die sogenannte “Hochfunktionale Depression”, bei der Betroffene trotz ihrer Erkrankung weiterhin ihren täglichen Aufgaben nachgehen und in der Außen-Perspektive ganz normal funktionieren. Ihr seelisches Leiden durch die Depression wird nicht sichtbar. Doch ebenso wie das Sisi-Syndrom ist die spezielle Beschreibung der hochfunktionalen Depression nicht Teil des ICD-11 Katalogs zur offiziellen Klassifizierung psychischer Erkrankungen.
Von Mediziner:innen gibt es regelmäßig Kritik am “Sisi-Syndrom”. Ausgedacht haben ihn sich nämlich Mitarbeiter:innen einer Pharma-Firma im Jahr 1998. Sie sollen behauptet haben, dass viele Frauen an Depressionen litten, ohne dass man es ihnen anmerke, oder sie es selbst wüssten. Um die Krankheit bekannt zu machen, suchten sie nach einer berühmten Identifikationsperson – und stießen auf Sisi. Zahlreiche Wissenschaftler:innen kritisieren, dass es sich beim “Sisi-Syndrom” um eine erfundene Krankheit handle. Viele Menschen könnten sich damit identifizieren und sich für krank halten, obwohl sie es nach klinischen Maßstäben nicht sind. In die Hände spiele das nur den Schöpfern der Krankheit: dem Pharmaunternehmen.
Krankheits-Kult
Auch wenn Sisis Tod über 120 Jahre zurückliegt, reißt das Interesse an ihrer Person nicht ab. Vielleicht ist es die Tragik ihrer Geschichte, die vielen Schicksalsschläge und die bittere Erzählung, dass sie ihr Leben lang versuchte, aus Wien und ihrer Rolle als Kaisern zu fliehen, die uns bis heute emotional bewegt. Und wer das zu düster findet, der kann sich zurückerinnern an Romy Schneider und Sisi als das harmlose Mädchen vom Lande sehen, die mit Franz eine große Liebesgeschichte erlebt und in Extravaganz und Prunk als märchenhafte Kaiserin lebt.
Es ist kein außergewöhnliches Phänomen, dass psychische Leiden bekannter Personen nach deren Ableben kommerzialisiert, umgedichtet und für reißerische Geschichten benutzt wurden, man möge allen voran an Marilyn Monroe denken, an Kurt Cobain oder Amy Winehouse.
Ob trotz des Kommerz-Coups eines Unternehmens etwas dran ist am Sisi-Syndrom oder nicht – perfide wird es vor allem, wenn Boulevard-Magazine Sisis Leiden in Listen von Diäten und Schönheitstipps verwandeln. Auch wenn die ersten Beschreibungen von Anorexie schon 1691 als „nervöse Auszehrung aufgrund von Traurigkeit und ängstlicher Sorge“ beschrieben wurde, ist nicht bekannt, das Sisi selbst zu Lebzeiten Diagnosen für ihre Symptomatik bekommen hatte.
Schaut man mit dem heutigen medizinischen und psychotherapeutischen Wissen auf das, was über das Leben der österreichischen Kaiserin bekannt ist, drängen sich die Begriffe Anorexie und Depression geradezu auf. Gerade deshalb sollte sensibel mit diesem Teil von Sisis Geschichte umgegangen werden. Nicht zuletzt, um ihre gesundheitsschädigenden Angewohnheiten nicht weiterhin als ikonisch zu stilisieren und ihre Erkrankungen zum Kult zu machen.