Julia ist 26 Jahre alt und teilt auf ihrem Instagramaccount @drehfrequenz Ausschnitte aus ihrem Leben. Sie spricht über den Alltag, ihre psychische Erkrankung und schreibt über innere Leere. Sie zeigt neue Frisuren, teilt Skills und dokumentiert ihren Weg vom Biologiestudium in den Journalismus. Kleine Dinge, die das Leben lebenswert für Julia machen, sind unter anderem Waldspaziergänge, die perfekten Worte zu finden und Überraschungspost.
Angst und Vorurteile
Semikolon: Warum hast du dich dafür entschieden, öffentlich über das Thema Klinik zu sprechen?
Julia: Weil ich früher ein total falsches Bild von psychiatrischen Klinik und total Angst davor hatte. Ich merke immer wieder, wie viele Leute keine Ahnung haben, was das eigentlich bedeutet. Mir schreiben immer wieder Betroffene, die sagen: Meine ambulante Therapeutin will irgendwie, dass ich in die Klinik gehe und ich habe total Angst. Das finde ich irgendwie schade, denn es kann sehr hilfreich sein, sich diese Hilfe zu suchen, wenn man sie braucht.
Semikolon: Was hat dir an Kliniken Angst gemacht?
Julia: Ich glaube, es war dieses typische Bild, was in vielen Filmen gezeichnet wird. Dass ich dort hingehe und mit Medikamenten ruhig gestellt, eingesperrt oder auf die geschlossene Station verlegt werde. Und dann gab paradoxerweise auch noch die Angst, dass ich nicht ernst genommen werde, dass es mir „nicht schlecht genug geht“. Auch darum, ob mein Umfeld dann anders über mich denkt, habe ich mir Gedanken gemacht.
Semikolon: Haben sich deine Ängste begründet?
Julia: Auf keinen Fall in der Intensität, in der ich sie hatte. Als ich das erste Mal in einer Klink war, war ich auf einer Station die offen für alle möglichen Krankheitsbilder war, von Depression bis zu Persönlichkeitsstörungen. Dort habe ich mich ziemlich fehl am Platz gefühlt und hatte das Gefühl, dass mich die Therapeut:innen und Pflegenden nicht verstehen. Das hat sich aber aufgelöst, als ich dann in eine andere Klinik gegangen bin.
Mit meinem Umfeld habe ich von Anfang an offen kommuniziert, dass ich in eine Klinik gehe. Am Anfang haben oft Menschen gesagt: Oh, ich wusste nicht, dass es dir so schlecht geht. Dafür habe ich mich sehr geschämt.
Der Weg in die Klinik
Semikolon: In welchen Kliniken bist du gewesen?
Julia: Das erste Mal stationär war ich im Mai 2021 auf einer psychiatrischen Psychotherapie-Station. Von dort bin ich einmal auf eine geschlossene Station verlegt worden und war dort später auch noch mal, aber jeweils nur für wenige Tage. Ich habe mich auch schon mehrfach akut einweisen lassen, ich bin also in die Notaufnahme gegangen und habe gesagt: Mir geht es total schlecht, ich brauche Hilfe. Es ist aber ein großer Unterschied, ob man akut oder geplant in eine Klinik geht.
Semikolon: Wie hast du deine Klinikaufenthalte geplant?
Julia: Ich bin froh, dass bei mir nie jemand anderes als ich entschieden hat, in eine Klinik zu gehen. Bei meinem ersten Klinikaufenthalt hat mir meine damalige ambulante Therapeutin dazu geraten. Wir haben beide gemerkt, dass einmal die Woche Therapie nicht ausreicht, um mich zu stabilisieren.
Therapeut:innen und Psychiater:innen haben auch die Funktion, Bedenken zu äußern. Sie können sagen, dass sie sich nicht wohl damit fühlen, einen nach Hause gehen zu lassen und sich erst in einer Woche wiederzusehen, wenn es einem sehr schlecht geht. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Beziehung zu meiner Therapeutin super wichtig dafür war, zu sagen, man weiß nicht ob man es zu Hause weiter schafft und dann gemeinsam die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Semikolon: Wie sah dann dein weiterer Weg bis in die Klinik aus?
Julia: Ich habe meinen Psychiater gefragt, ob er mir eine Klinik empfehlen kann. Ich hatte dann bei einer Klinik ein Vorgespräch und musste vier Wochen warten, bis ich aufgenommen wurde. Für eine stationäre Therapie ist das noch relativ kurz. Wenn man akut Hilfe braucht, dann kann man jederzeit in das nächste Krankenhaus gehen und dort mit Psychiater:innen sprechen.
Alltag auf einer psychiatrischen Psychotherapie-Station
Semikolon: Wie war der Alltag in der Klinik für dich?
Julia: Ich beziehe mich am besten auf eine spezielle Borderline-Station, auf der ich über ein Jahr lang immer wieder war. Dort habe ich vor allem dialektische Verhaltenstherapie gemacht. Für die Therapie hatte man so etwas wie einen Stundenplan. Das hat sich zusammengesetzt aus Gruppentherapie, Einzeltherapie, Ergotherapie und Sportangeboten. Es hab auch Achtsamkeitsmodule und Meditationen, bzw. Übungen zum Selbstmitgefühl. Morgens als erstes hatten wir eine Morgenrunde, in der wir Ziele für den Tag festgelegt haben. Dann gab es drei bis vier Therapieangebote, die man verpflichtend wahrnehmen musste. Vielleicht klingt das wenig, aber es ist sehr anstrengend, sich so intensiv mit sich selbst auseinanderzusetzen. Abends gab es dann noch die Abendrunde, in der über den Tag, und ob die Ziele erreicht wurden, gesprochen wird. Wir haben auch so etwas wie Hausaufgaben bekommen.
Semikolon: Gab es auch Dinge, die dich in der Klinik genervt haben?
Julia: Am Anfang dachte ich, dass dieses Achtsamkeitsthema Quatsch ist, ich kannte das nur aus dem Esoterik-Raum. Viele Atemübungen haben bei mir am Anfang auch zu Dissoziationen geführt. Ich hatte nie gedacht, dass ich diese Übungen nun ein Jahr später freiwillig zu Hause mache. Die ganzen Regeln und durchgehend Menschen um mich herum zu haben, hat mich zum Teil auch genervt. Es gibt selten Einzelzimmer und die Mitbewohnerin konnte ich mir nicht aussuchen. Meistens hatte ich Glück, aber Dinge wie Schlafprobleme wirken sich natürlich auch auf die Mitbewohnerin aus.
Bei einer Dissoziation verliert die betroffene Person den Zugang zur Welt um sie herum. Sie fühlt sich weggetreten, wie in Watte gepackt oder losgelöst von sich selbst. Was um die Person herum geschieht, nimmt sie nur noch kaum oder gar nicht mehr wahr.
Semikolon: Wie war die Gruppentherapie für dich?
Julia: Ich habe meine Mitpatient:innen als sehr wohlwollend und wertschätzend wahrgenommen. Man wird nicht gedrängt, sich zu öffnen. Gerade die Skills-Gruppen waren auch immer stark strukturiert, wir haben zum Beispiel Arbeitsblätter zu einzelnen Skills bekommen oder Rollenspiele gemacht um den Skill im zwischenmenschlichen zu üben.
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Semikolon: Welche Skills helfen dir im Alltag besonders gut?
Julia: Vor allem die radikale Akzeptanz. Also zu versuchen, zu akzeptieren, was man gerade wirklich nicht ändern kann und die Situation anzunehmen, ohne sie zu bewerten. Das fällt mir oft noch schwer, aber wenn es mir gelingt, den Skill anzuwenden, ist das unglaublich erleichternd für mich. Auch Selbstmitgefühl ist mir wichtig. Viele Menschen, gerade mit Borderline, haben verinnerlicht, sich zu bestrafen, wenn Dinge nicht funktionieren. Mit Selbstmitgefühl an die Sache heranzugehen ist ein Grundstein, um überhaupt Skills Anwesen zu können. Warum sollte man es sich sonst „gönnen“, funktional aus einem Moment rauszukommen, wenn man sich eigentlich total scheiße findet?
Semikolon: Wie hast du deine freie Zeit in der Klinik verbracht?
Julia: Wenn ich daran zurückdenke, war es oft auch eine coole Zeit. Natürlich war es auch belastend, die ganze Zeit in einem Krankenhausumfeld zu sein und so viel mit Krankheit konfrontiert zu sein. Deswegen habe ich dann oft versucht, ein wenig rauszukommen und einige Stunden außerhalb zu verbringen, weil man sonst die ganze Zeit an Therapie denkt. Wir hatten auch einen großen Aufenthaltsraum mit Puzzeln und Spielen. Ich habe auch einige tolle Freundinnen dort gefunden. Es war ein gutes Gefühl, im gleichen Boot zu sitzen. Man konnte sich über alles Unterhalten und sich über manches auch mal lustig machen, nicht immer alles ernst nehmen. Nicht nur die Therapie, sondern auch die Kontakte, die ich dort geknüpft habe, haben mir sehr geholfen.
Semikolon: Ein gängiges Vorurteil ist es, dass sich psychisch Erkrankte Menschen gegenseitig triggern.
Julia: Es gab vereinzelt Menschen, die das ‚schwarze Schaf‘ der Gruppe sein wollten; also beweisen, dass es ihnen am schlechtesten von allen geht. Es gab bei uns die Regel, dass wir funktional in den Kontakt gehen sollen. Bedeutet also, die Verbindung zu den Mitpatient:innen nicht in dem Leid oder in der Krankheit zu suchen, sondern uns gegenseitig zu unterstützen und zu helfen. Sie haben sich aber bewusst nicht an diese Regeln gehalten, haben anderen Tipps für das Verheimlichen von Selbstverletzungen oder gestörtes Essverhalten usw. gegeben. Das war sehr schwierig, auch für die Gruppendynamik. Aber vom Team wurden wir im Umgang damit viel unterstützt und solche Begegnungen waren zum Glück die absolute Ausnahme.
Semikolon: Was für Regeln galten in der Klinik?
Julia: Es war eine offene Station, aber man musste sich abmelden, wenn man weggegangen ist und bis 23 Uhr zurück sein. Problemverhalten war tabu, also Konsum jeglicher Art, Selbstverletzung und so weiter. Wenn es passiert ist, musste man es ansprechen und versorgen lassen. Bei Suizidgedanken muss man sofort mit dem Team sprechen, auch um eine Absprachefähigkeit zu gewährleisten. Außerdem durfte man sich während des Aufenthalts nicht tätowieren lassen. Es gab auch individuelle Regeln, je nach Problemverhalten und eventuellen Begleiterkrankungen.
Semikolon: Wie war die Verbindung zu deinem Alltag, während du in der Klink warst?
Julia: Ich habe nicht einmal drei Kilometer von der Klinik entfernt gewohnt, hatte also alle meine Sozialkontakte und konnte auch mal Termine aus meinem Alltagsleben, zum Beispiel von der Uni wahrnehmen. Ich habe die Klinik oft als Schutzraum wahrgenommen, zum Beispiel weil man eben nicht selbst einkaufen gehen musste.
Auf der geschlossenen Station
Semikolon: Wie war es für dich, auf einer geschlossenen Station zu sein?
Julia: Dort werden keine Anforderungen gestellt. Man muss zu keiner Therapie gehen, eigentlich muss man gar nichts machen. Sogar die Medikamente wurden einem ans Bett gebracht. Auf einer geschlossenen Station sind Menschen, die selbst- oder fremdgefährdend sind oder es androhen. Die meisten, mit denen ich da war, hatten psychotische, keine neurotischen Erkrankungen. Es war meistens sehr laut und hektisch. Für mich war das alles sehr anstrengend und kein Ort, an dem ich zur Ruhe kommen konnte. Ich war jedes Mal froh, wenn ich wieder runter war.
Semikolon: War es für dich trotzdem richtig, dort zu sein?
Julia: Dort zu sein, hat irgendwie immer den Kampfgeist in mir geweckt. Zu sehen, dass man rauswill und nur raus kommt, wenn man sich ein bisschen auf die Beine stillt und den ersten Schritt geht, sich weiter helfen zu lassen.
Semikolon: Wie war die Zeit nach der Klink für dich?
Julia: Ich hatte gemischte Gefühlte. Wieder eigenverantwortlich zu sein, selbst entscheiden zu können, hat mir Hoffnung gegeben. Es hat mir aber auch unglaublich Angst gemacht, dass ich nichts gelernt hätte in der Zeit, dass ich bald wieder auf der Matte stehen würde. Ich habe auch die Menschen vermisst, die ich über Wochen jeden Tag und dann auf einmal nicht mehr gesehen habe. Gerade mit den Pflegenden kann man danach ja nicht befreundet sein. Zu Hause war es dann schön, mal wieder mein Lieblingsessen kochen zu können. Nach ein paar Tagen kamen dann Einbrüche, aber ich bin mit einem besseren Gefühl raus- als reingegangen.
Semikolon: Also würdest du im Rückblick sagen, du hast die richtige Entscheidung damit getroffen, in eine Klinik zu gehen?
Julia: Auf jeden Fall. Eigentlich ist es schade, dass ich es nicht schon früher gemacht habe. Ich habe meine Borderline-Diagnose in der Klinik bekommen und das hat für mich sehr viel erklärt. Den Austausch darüber zu haben, hat mir sehr geholfen und ich kann jetzt schwierige Situationen anders lösen als davor. Ich habe in der Klinik unglaublich viel gelernt, die Therapie ist einfach viel intensiver als ambulant. Ich glaube nicht, dass Klinik für jede:n der beste Weg ist, mit einer psychischen Erkrankung umzugehen, aber vielleicht muss man verschiedene Konzepte mal ausprobieren. Für mich war es eine sehr hilfreiche Zeit.
Wenn du mehr über das Thema Borderline wissen willst, klicke hier.
„Ich finde es wichtig, dass es einen offenen gesellschaftlichen Umgang mit psychischen Erschwernissen gibt.“, sagt Annette Knödler. Aufzuklären und zu betonten, wie schwer und belastend selbstverletzendes Verhalten sein kann, sei von großer Bedeutung. Und zu erklären, „dass es eine Strategie ist, mit Gefühlen umzugehen.“
Wenn du unter selbstverletzendem Verhalten leidest oder daran denkst, findest du hier Hilfe: Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe unter 0800 3344533. Sprechzeiten: Mo, Di, Do: 13:00-17:00, Mr, Fr: 08:30-12:30
Semikolon - Nachgefragt
Semikolon: Denkst du, wir sollten gesellschaftlich mehr über psychische Erkrankungen sprechen? Wenn ja, warum?
Julia: Ja. Für mich ist es in neuen sozialen Situationen noch immer schwer, einzuschätzen ob ich wie ehrlich ich sein kann, auch wenn ich nicht direkt alles von mir erzählen will. Aber zum Beispiel frage ich mich dann oft: Kann ich sagen, dass ich noch ein Rezept beim Psychiater abholen muss, oder werde ich dann direkt in eine Schublade gesteckt? Seitdem ich auf Instagram Bezug auf das Thema nehme, schreiben mir oft Menschen, die ich schon lange kenne und dann erzählen, dass sie selbst psychische Probleme haben. Menschen, bei denen ich das sonst nie mitbekommen hätte und die sich manchmal nicht trauen, sich Hilfe zu suchen, weil sie Angst vor dem Stigma haben. Das finde ich schlimm und wünsche mir, irgendwann keine Angst mehr zu haben, darüber zu sprechen.
Semikolon: Was kann jede:r Einzelne tun, um einen Beitrag zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen zu leisten?
Julia: Es ist wichtig, zuzuhören, wenn ein betroffener Mensch etwas zu dem Thema teilt. Ich habe es früher oft erlebt, dass schnell geurteilt wurde und jemand nur den richtigen Sport, Job oder Routinen bräuchte. Wenn ich so etwas gehört habe, dachte ich: Auf keinen Fall selbst über das Thema sprechen! Wenn die Reaktionen anders gewesen wären, wäre das nicht so gewesen. Generell sollte man nicht so viel kommentieren, gerade im Bezug auf Essstörungen und Körper zum Beispiel.
Wenn es dir nicht gut geht, oder du selbst Suizidgedanken hast, kannst du hier Hilfe finden:
Telefonseelsorge Deutschland, kostenfrei, anonym und rund um die Uhr erreichbar: 0800 / 111 0 11 oder hier per Chat oder Mail.
In jedem Krankenhaus ist es möglich, sich zu Tag und Nacht in der Notaufnahme zu melden. Auch Rettungsdienste (112) und Polizei (110) können im Notfall angerufen werden.
Auch wenn du dir Sorgen um einen Menschen machst, kannst du dich an die Hilfsangebote wenden.