Sofia Wagner Selbstverletzung Narben Zeichnung

Sofia Wagner – Über Selbstverletzung und Narben

„Die Narben nur abzudecken, ist keine Lösung“

Der Sommer hat begonnen, die Menschen auf der Straße tragen wieder kurze Klamotten, viel Haut ist zu sehen. Bei Sofia Wagner war das lange anders - weil sie ihre Narben, die durch selbstverletzendes Verhalten entstanden sind, verstecken wollte. Warum sie diesen Sommer anders damit umgehen möchte und was sie dazu bewegt hat, ihre Narben auf Social Media zu zeigen, erzählt sie Semikolon im Interview.

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Sofia Wagner ist zwanzig Jahre alt, lebt in Darmstadt und macht ein FSJ in einer Wohngruppe für Kinder und Jugendliche. Und Sofia ist psychisch erkrankt. Auf ihrem Instagram-Account @mechoosinglife teilte sie zwei Jahre lang ihre Erfahrungen mit ihrer Essstörung, Depression und Narben. Sofia bricht damit Tabuthemen auf: „Weil das ein Teil von mir ist. Und wenn ich das verstecke, geht es nicht weg“, sagt sie.

Was sie zu dazu bewegt hat, öffentlich über Selbstverletzungsnarben zu sprechen, warum das gerade zum Sommeranfang wichtig ist und was ihr letzter Urlaub damit zu tun hat, erzählt sie im Interview.

Psychische Erkrankung auf Instagram

Semikolon: Auf Instagram redest du über deine psychische Erkrankung. Wie kamst du dazu?

Sofia Wagner: Ich habe viel zu sagen und möchte anderen weitergeben, was mir auf meinem Weg hilft und was nicht. Es gibt so viele Stigmata und Dinge, die totgeschwiegen werden. Ich glaube, dass das auch der Grund ist, warum ich erst so spät Hilfe bekommen habe. Ich rede auf Instagram auch darüber, wenn es mir gerade nicht gut geht. Das Maß zu halten, was man teilt und in Worte packt, finde ich manchmal schwierig. Aber ich habe den Eindruck, dass es hilft, wenn Leute auch teilen, dass es ihnen gerade schlecht geht und nicht nur diese toxische happiness. Es ist normal, dass es auf diesem Weg manchmal Rückschritte gibt.

Semikolon: Wie geht es dir gerade mit selbstverletzendem Verhalten?

Sofia Wagner: Es ist gerade das zweite Mal gewesen, dass es mit der Selbstverletzung wieder schlimmer geworden ist. Kurz davor habe ich mit meinen Eltern darüber geredet, weil ich in der Therapie viel daran gearbeitet und das Gefühl hatte, es auch aushalten zu können, wenn sie Fragen stellen. Meine Eltern sind sehr fürsorglich. Wenn irgendwas ist, bekommen sie das meistens mit und sprechen es an. Aber als ich ausgezogen war, hat es eben niemand mehr mitbekommen. Als es jetzt wieder wärmer wurde, wusste ich, dass ich mich mit dem Thema wieder auseinandersetzen und entscheiden muss, wie ich damit umgehen will.

Die Psychotherapeutin Annette Knödler sagt, dass es zu selbsverletzendem Verhalten kommen kann, wenn Menschen versuchen, damit ihre Emotionen zu regulieren. Die Selbstverletzung dient dann als Ventil: „Es ist der Versuch, starke negative Gefühle und inneren Schmerz durch einen äußeren zu betäuben“.

Besonders Menschen mit Borderline leiden oft unter selbstverletzendem Verhalten (lies hier einen Artikel dazu, wie Pete Davidson mit dieser Erkrankung umgeht). Aber auch bei Depressionen und Angststörungen kommt es immer wieder vor, dass die negativen Emotionen so stark sind, sagt Annette Knödler.

Auch Abhängigkeitsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen und externalisierende Störungen wie Hyperaktivitäts- oder Sozialverhaltensstörung mit impulsiven und aggressiven Verhaltensweisen, können zu selbstverletzendem Verhalten führen.

Wenn du unter selbstverletzendem Verhalten leidest oder daran denkst, findest du hier Hilfe: Telefonseelsorge, 24/7 erreichbar unter: 0800.1110111

Narben im Sommerurlaub

Semikolon: Wie bist du damit umgegangen?

Sofia Wagner: Wir sind in den Urlaub gefahren, wo es warm war. Meine Schwester hat zu mir gesagt: Sofia, du gehst mit ins Meer, du liegst da nicht zehn Tage mit Pulli. Und da habe ich gedacht: Ja Mann, sie hat Recht! Das hat mir den Push gegeben, mit meinen Eltern zu reden. Das war ein ganz kurzes Gespräch: Ich habe zu ihnen gesagt, dass ich will, dass sie es wissen und es präsent ist, aber dass ich nicht will, dass darüber geredet wird oder Blicke ausgetauscht werden. Sie haben das gut respektiert und dann bin ich das erste Mal im T-Shirt rumgelaufen.

Semikolon: Und dann hast du ein Foto davon auf Instagram geteilt?

Sofia Wagner: Ja, ich habe einen Post gemacht, auf dem ich meine Narben online gezeigt habe. Meine Freunde wissen zum Teil, wie es aussieht, oder dass es da ist, aber der Rest weiß das natürlich nicht. Ich habe gezittert, als ich es hochgeladen habe und den ganzen Tag überlegt, ob ich es wieder löschen soll. Aber es war die richtige Entscheidung. Ich habe so viele Sommer damit verbracht, mich zu verstecken und in denen ich eingeschränkt war. Ich habe viel positive Rückmeldungen bekommen, in denen Leute gesagt haben, dass es ihnen hilft, das zu sehen und sie merken, dass sie sich auch zeigen wollen und überlegen, wie. Das zu hören war ein Ansporn.

Und auch zu merken, dass es so normal sein kann, ein T-Shirt zu tragen. Ich mache mir immer noch die Gedanken drüber. Das gehört dazu, aber es wird weniger. Ich denke nicht mehr Tag und Nacht daran.

„Ich finde es wichtig, dass es einen offenen gesellschaftlichen Umgang mit psychischen Erschwernissen gibt.“, sagt Annette Knödler. Aufzuklären und zu betonten, wie schwer und belastend selbstverletzendes Verhalten sein kann, sei von großer Bedeutung. Und zu erklären, „dass es eine Strategie ist, mit Gefühlen umzugehen.“

Wenn du unter selbstverletzendem Verhalten leidest oder daran denkst, findest du hier Hilfe: Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe unter 0800 3344533. Sprechzeiten: Mo, Di, Do: 13:00-17:00, Mr, Fr: 08:30-12:30

Dein Körper - markiert als sensibler Content

Semikolon: Wie hat sich der Post auf dein Privatleben ausgewirkt?

Sofia Wagner: Wenn Sommer wird, dann muss ich dieses Gespräch über die Narben innerhalb von kurzer Zeit immer wieder führen. So war das wirklich eine Entlastung. Es war einmal draußen und ich musste mich nicht immer wieder neu trauen.

Semikolon: Die Fotos deiner Narben sind auf Instagram als „sensibler Content“ gekennzeichnet, weil sie triggernd wirken könnten. Wie geht es dir damit?

Sofia Wagner: Mir war bewusst, dass das vermutlich passieren wird, aber als ich es das erste Mal gesehen habe, hat mich das schon ziemlich runtergezogen. Das ist meine Haut, das ist mein Körper, so wie er existiert, ohne dass ich ihn in Szene setze oder reinzoome. Natürlich, die Mehrzahl der Menschen hat solche Narben nicht, aber es gibt auch Menschen auf der Straße, die welche haben. Da kann man ja auch nicht einfach hingehen und zu ihnen sagen, sie sollen sich bitte etwas anziehen, weil einen das triggert. So ähnlich sehe ich das im Internet. Manchmal macht mich das auch richtig wütend, dass sich andere Menschen darüber aufregen, das zu sehen, während ich damit leben muss.

Ich bin selbst eine Person, die sich sehr leicht triggern lässt. Gleichzeitig weiß ich auch, dass das nicht die Schuld von anderen, sondern mein Thema ist, an dem ich arbeiten muss. Es gibt Trigger, die man ganz gut vermeiden kann, zum Beispiel, indem man nicht im Detail über Dinge redet. Aber es gibt auch Trigger, die einfach da sind und mit denen man umgehen muss.

Was tun bei Selbstverletzungsdruck?

Semikolon: Was hilft dir, wenn du getriggert bist?

Sofia Wagner: Da kommt es auf die Situation an. Aber ich versuche den Anteil, der getriggert ist, zu besänftigen. Die fünf-vier-drei-zwei-eins Übung finde ich sehr hilfreich, um aus dieser Blase wieder rauszukommen. Manchmal sind es aber auch Atemübungen oder die Situation kurz zu verlassen. Es geht darum, Dinge zu tun, die einen ins hier und jetzt holen. Ich mache da auch gerne Sudokus oder Kreuzworträtsel, weil mein Kopf dann beschäftigt ist.

Die Übung, von der Sofia spricht, kommt aus der Verhaltenstherapie (DBT). Jede Zahl wird einem Sinn zugeordnet. In einer Stresssituation benennt Sofia fünf Dinge, die sie sieht, vier Dinge, die sie hört, drei Dinge, die sie fühlt, zwei Dinge, die sie riecht und eine Sache, die sie schmeckt. Ihr hilft das, um wieder in den Moment zu finden. Erfahre mehr zu DBT Übungen hier.

Semikolon: Wie erklärst du selbstverletzendes Verhalten für außenstehende Personen?

Sofia Wagner: Ich sage zum Beispiel, dass das manche Menschen machen, wenn sie sich selbst nicht mehr spüren und nicht mehr ein noch aus wissen.

„Ich würde versuchen zu erklären, welche Funktion das selbstverletzende Verhalten hat“, rät auch die Psychotherapeutin Annette Knödler. „Viele Menschen kennen starke Emotionen und wissen auch, wie schwer das sein kann“, sagt sie.

Wenn du unter selbstverletzendem Verhalten leidest oder daran denkst, findest du hier Hilfe: Die Online-Beratung der NummergegenKummer.

Narben, die bleiben

Semikolon: Wie geht es dir selbst damit, wenn du deine Narben siehst?

Sofia Wagner: Das kommt auf den Tag an. Aber die Vorstellung, dass es immer da sein wird und ich mein ganzes Leben damit weiterleben muss, ist schon ziemlich schwierig. Auch dann noch, wenn ich vierzig bin – das ist schon ein krasser Gedanke. Aber irgendwie war das der Weg, der mir das Leben gerettet hat. Da kann ich irgendwie auch dankbar dafür sein, dass sie da sind. Es sind beide Seiten. Wenn ich vor dem Spiegel stehe, dann schaue ich schon länger hin. Ich kann mich da nicht so von losreißen, also davon, dass das wirklich real ist. Mir hilft lange Kleidung, aber die Lösung ist nicht, die Narben nur abzudecken. An T-Shirts muss ich mich aber noch gewöhnen. Das ist ein Prozess und das ist okay so.

Semikolon: Was würdest du anderen Menschen, die auch Selbstverletzungsnarben haben, zum Sommeranfang raten?

Sofia Wagner: Dieses eine Leben ist so kurz. Man sollte sich nicht nehmen lassen, das zu machen und anzuziehen, was man will. Ich glaube, es wird nie der Tag kommen, an dem man denkt: Jetzt bin ich mit allem zufrieden und werde nie wieder unsicher sein. Irgendwo muss man anfangen. Das ist anstrengend und dauert, aber es lohnt sich. So merke ich erst, was ich Stückchen für Stückchen wieder zurückbekomme.

Semikolon: Was sollten Menschen tun, die sich selbst verletzen oder darüber nachdenken?

Sofia Wagner: Es ist am besten, wenn jemand Bescheid weiß, mit dem man darüber reden kann. Und dass man sich professionelle Hilfe holt, also Therapie. Oft ist eine Angst davor da, dieses Verhalten loszulassen und sich etwas Neues aufzubauen, auch wenn man tief im Inneren weiß, dass das ungesund und keine Lösung für immer ist. Man muss nach Dingen suchen, wie man anders klarkommt: Durch Schnee gehen, barfuß laufen, sich in den Regen legen oder unter eine kalte Dusche stellen. Etwas, womit die Reize angeregt werden. Oder Hobbys, für die man brennt. Bei mir ist das zum Beispiel Malen, um Ausdruck zu finden, statt alles an mir selbst auszulassen.

Das Interview entstand im April 2022.

Dieser Beitrag wurde von einer ärztlichen Psychotherapeutin redigiert. 

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Maja

“Psychische Erkrankungen begegnen uns häufiger als wir denken. Wir müssen hinsehen und darüber reden.”